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Imre Magyari

Meine Auseinandersetzung mit der Literatur der Rom_nja in Ungarn

Persönliche Beziehungen

Ich bin Nachkomme berühmter Roma-Musiker – in Ungarn sagt man »cigányzenész«, »Zigeunermusiker«. Die Wörter »cigány« und »Rom_nja« sind aus meiner Sicht Synonyme, das Wort »cigány« hat meines Erachtens keine pejorative Nuance, obwohl der Antiziganismus in Ungarn ungeachtet dessen jedenfalls stark ausgeprägt ist. Mein Urgroßvater Béla Radics und mein Großvater Imre Magyary gehörten zu den populärsten Musiker_innen ihrer Zeit. Ich begann mich mit der Literatur der Rom_nja nach der Absolvierung meiner Studien der Volkskunde Ende der 1970er Jahre zu beschäftigen. In jenem Jahrzehnt erschienen die ersten Werke der geschriebenen Roma-Literatur in Ungarn.

Über dieses Thema verfasste ich meine Dissertation, »A magyarországi cigányság irodalmáról« (›Über die Roma-Literatur in Ungarn‹, 2013), der Doktortitel wurde mir 2014 verliehen. Derzeit (2018) arbeite ich an einem Buch mit dem Titel: »Die Geschichte der Roma-Literatur in Ungarn«.

Definition von Roma-Literatur

Die wichtigste Aufgabe ist es, den Begriff der Roma-Literatur zu definieren. Es kann natürlich auch darüber diskutiert werden, wen wir als »Rom_nja« betrachten. Die Frage nach der Identität ist eine sehr wichtige und spielt auch in den Werken der Roma-Schriftsteller_innen eine wichtige Rolle (an dieser Stelle beschäftige ich mich jetzt damit jedoch nicht).

Nach meiner Definition ist Roma-Literatur die Gesamtheit der Werke von Schöpfer_innen, die eine Identität als Rom_nja oder (neben anderen Identitäten) auch eine Identität als Rom_nja haben, völlig unabhängig von der gewählten Sprache. Diese Werke sind natürlich gleichzeitig Teile der Literatur der gewählten Sprache und Teile der Universalliteratur. Außerdem gehört ein literarischer Text auf Romani meines Erachtens automatisch zur Roma-Literatur. Es gibt in Ungarn zweisprachige Dichter wie zum Beispiel József Choli Daróczi und Gusztáv Nagy, die sowohl auf Ungarisch als auch auf Romani schreiben und auch als Übersetzer_innen tätig sind.

Neben meinem Verständnis der Roma-Literatur gibt es auch andere Auffassungen: Einige meinen, dass nur auf Romani geschriebene Texte zur Roma-Literatur zählen. Nach einer anderen Meinung hängt es vom jeweiligen Thema ab: Wenn ein Werk von Rom_nja handle, dann gehöre es auch zur Roma-Literatur. Mit diesen Ansichten bin ich nicht einverstanden, aber auch sie haben ihre Berechtigung.

Die mündliche Überlieferung

Rom_nja leben auf dem Gebiet des ehemaligen Ungarn seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Die Sammlung ihrer Lieder, Balladen und Märchen begann jedoch erst Ende des 19. Jahrhunderts. Es steht jedoch außer Frage, dass die reiche mündliche Kultur der Rom_nja weit älter ist.

So war auch das Genre des Märchens von besonders großer Bedeutung. Sogar noch in den 1970er Jahren konnte man Roma-Märchenerzähler_innen finden (so sammelte Péter Szuhay (2003) die Märchen von István Babos) – 70 Prozent der Rom_nja waren damals noch Analphabet_innen.

Die reichste Sammlung von Märchen und anderen mündlich überlieferten Texten stammt von Károly Bari: »Régi cigány szótárak és folklór szövegek« (›Alte Roma-Wörterbücher und Texte der Folklore‹, 2013).

Es gab und gibt in Ungarn einige Schriftsteller_innen József Holdosi, Menyhért Lakatos und Magda Szécsi, die auch Märchen schrieben und schreiben.

Obwohl ich kein Volkskundler bin, werde ich im Rahmen meiner geplanten Publikation natürlich auch über die mündliche Überlieferung ein längeres Kapitel schreiben.

Mehmet Emir | József Holdosi in the Austrian National Library, 28 April 1994 | Fotografie | Österreich | 28. April 1994 | lit_00667 Rights held by: Mehmet Emir | Licensed by: Department of Folk Music Research and Ethnomusicology – University of Music and Performing Arts Vienna | Licensed under: Rights of Use | Provided by: Department of Folk Music Research and Ethnomusicology – University of Music and Performing Arts Vienna (Austria) | Photographed on: 28.04.1994 (Vienna/Austria)

Die schriftliche Roma-Literatur

Obwohl es bereits im 19. Jahrhundert einige wenige schriftliche Texte gab, liegt der eigentliche Beginn der schriftlich fixierten Roma-Literatur in Ungarn in den 1960er Jahren: Texte von Roma-Schriftsteller_innen erschienen zunächst in verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen. Zudem gab es auch eine »hausgemachte« Roma-Zeitschrift, »Rom Som« (›Ich bin ein Rom‹), die in einer sehr kleinen Auflage herausgegeben wurde. Sie wurde von József Choli Daróczi redigiert.

Zwei symbolisch wichtige Jahreszahlen sind 1970 und 1975. Im Jahre 1970 erschien der Gedichtband »Holtak arca fölé« (›Über Gesichter der Verstorbenen‹) von Károly Bari. Im Jahre 1975 erschien der Roman »Füstös képek« von Menyhért Lakatos – der Titel ist schwer zu übersetzen, er bedeutet sowohl ›Geräucherte Gesichter‹, im Sinne dunkler Gesichter, als auch ›qualmige, dämmerige Bilder‹. Beide Bücher erregten großes Aufsehen.

Im Jahre 1981 erschien die Gedichtsammlung »Fekete korall« (›Schwarze Koralle‹), in der der Herausgeber József Choli Daróczi sieben Dichter_innen vorstellt.

Seit einigen Jahren ist Tamás Jónás der produktivste Autor der Roma-Literatur. Er verfasst Gedichte und Prosa und publizierte bereits mehr als zehn Bände, die ein sehr hohes ästhetisches Niveau aufweisen. 2014 und 2016 erschienen zwei erschütternde Gedichtbände von Attila Balogh. Unter dem Titel »Csönd« (›Stille‹) veröffentlichte Károly Bari Ende 2017 zwölf Gedichte, die er in den letzten zwei Jahrzenten verfasst hatte.

Die hervorragendsten Autor_innen

Heute können wir circa dreißig Roma-Dichter_innen und -Schriftsteller_innen erwähnen, einige (unter anderen Tamás Jónás, Béla Osztojkán und Magda Szécsi) schreiben sowohl Gedichte als auch Prosa. In meiner geplanten Publikation sind den meines Erachtens bedeutendsten Autor_innen (János Balázs, Attila Balogh, Károly Bari, József Holdosi, Tamás Jónás, József Kovács, Menyhért Lakatos, Béla Osztojkán, József Szepesi und Magda Szécsi) umfassende Porträts gewidmet, die durch kürzere, weiteren Autor_innen gewidmete Darstellungen ergänzt werden.

Die Literatur der Rom_nja in Ungarn ist heutzutage ein verborgener Schatz.

Imre Magyari

Werke an der Grenze der Literatur

Es gibt Werke, die nicht zur Literatur im engeren Sinn – zur Belletristik – gehören, trotzdem aber in einem weiteren Sinn als literarisch betrachtet werden können: Autobiografien, Erinnerungen, Memoiren – auch Briefe könnten wir in diese Gruppe einordnen. Einige der Werke der ungarischen Roma-Literatur gehören zu dieser Kategorie. Ich vertrete die Ansicht, dass diese Werke auch behandelt werden müssen. Dabei denke ich zum Beispiel an die Erinnerungen von Hilda Nyári oder Sándor Romano Rácz.

Darstellung und Repräsentation von Rom_nja in der europäischen und ungarischen Literatur

Im Rahmen der Postcolonial Studies, seit den 1980er Jahren, steht das Wechselverhältnis zwischen Kolonisator_innen und Kolonisierten, verbunden mit Fragen der Repräsentation und der Machtstrukturen, im Mittelpunkt der Forschung. Aber schon der in Martinique geborene Frantz Fanon unterzog in den 1950er Jahre, »den weißen Blick « einer Kritik.

Ebenso kann erforscht werden, wie Rom_nja in Europa und in Ungarn gesehen und in der Kunst – also nicht nur in der Literatur! – dargestellt wurden und werden. Hierbei gibt es drei typische Arten von Repräsentationen: das romantische Bild (zum Beispiel bei Victor Hugo, Prosper Mérimée und Alexander Puschkin), das komische Bild (etwa bei János Arany und Géza Gárdonyi) und das reale Bild (siehe József Balázs, Szilárd Borbély, Sándor Tar und Krisztina Tóth). Diese Bilder können dann die verschiedensten Schattierungen annehmen. In diesem Zusammenhang ist es sehr interessant, wie Roma-Schriftsteller_innen Nicht-Roma, das Zusammenleben und die Konflikte darstellen.

Persönliche Bemerkungen

Oft frage ich mich: Für wen schreibe ich mein Buch? Die Lage der ungefähr 600.000 bis 800.000 ungarischen Rom_nja ist tragisch: Sie leben, eine dünne Schicht ausgenommen, unter prekären Umständen und sind täglich mit Diskriminierung konfrontiert, die natürlich auch Gegenreaktionen auslösen. Mehr als 80 Prozent der Rom_nja haben lediglich einen Grundschulabschluss, nur 13 Prozent sind regulär beschäftigt, 95 Prozent von ihnen sterben mit weniger als sechzig Jahren ... Über die Geschichte, über die Lage, über die vergangene und gegenwärtige (!) Verfolgung von Rom_nja erscheinen auch wichtige dokumentarische, historische, soziografische und soziologische Werke (vgl. unter anderem Bársony und Daróczi 2014; Horváth 2017; Kóczé, Neményi, Szalai 2017; Szuhay 2012; Tódor 2017 sowie Vágvölgyi 2016).

Ich kann nur Bob Dylan zitieren: »the answer is blowing in the wind«. Die Literatur der Rom_nja in Ungarn ist heutzutage ein verborgener Schatz.

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