Roma-Literatur in Ungarn: Ein Überblick

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Zoltán Beck

Attila Balogh (* 1956): Dichter und Herausgeber

»Attila Balogh ist ein Dichter, der kein Heimweh kennt, ja, er hat nicht einmal eine Heimat. Er ist ein Migrant, wie viele auf unserer Welt und wie viele der großen Dichter_innen... Da jeder auf dieser Welt ein Flüchtling ist, ist es Attila Balogh auch. Er flüchtete in die ungarische Sprache, um zum Schriftsteller zu werden, er flüchtete in die Gemeinschaft der Rom_nja, um eine Heimat zu finden, aber Rom_nja haben keine Heimat. Die Ungar_innen glaubten bloß, sie hätten eine: Doch was ist das für eine Heimat, die jene ausschließt, die hier geboren sind, und jene nicht akzeptiert, deren Haut etwas dunkler ist? Warum sind wir nur der Meinung, dass es zwei Dichtungen gibt, eine auf Romani und eine auf Ungarisch, und dass zwei Kulturen existieren...? Ein Dichter zu sein, zwischen zwei Sprachen zu wechseln, eine Heimat zu finden, bedeutet Rom zu sein, bedeutet Ungar zu sein, bedeutet irgendjemand zu sein.«

Péter György schreibt über Attila Balogh

So lautet das Motto des Dokumentarfilms über Leben und Werk des Attila Balogh aus dem Jahr 2006. Der Film trägt den Titel »Három pokol« (wörtlich ›Drei Höllen‹). Reporter und Herausgeber dieses Filmportraits war Tamás Jónás, der bekannte, ungarisch schreibende zeitgenössische Autor. Die drei Teile des Dokumentarfilms stehen in ungarischer Sprache auf YouTube zur Verfügung.

Attila Balogh debütierte in den 1970er Jahren in der ungarischen Literaturszene. Sein erster Gedichtband mit dem Titel »Lendítem lábamat« (wörtlich ›Ich schwang mein Bein‹) wurde 1980 veröffentlicht. Dénes Csengey hält in seiner Studie aus dem Jahr 1986, die vermutlich den ersten zeitgenössischen Versuch einer Kanonisierung von Roma-Literatur in Ungarn darstellt, Baloghs Buch für so wichtig, dass er den Dichter in einem Atemzug mit Károly Bari und Béla Osztojkán nennt und zur lyrischen Triade Ungarns zählt.

Man könnte Attila Baloghs Dichtung, vor allem, wenn sein explizites, ganzheitliches und stimmiges lyrisches Ich darin zum Ausdruck kommt, als eine idiosynkratische Interpretation des Dichters Attila József bezeichnen. Schon im Klappentext des Erstlingswerks wird auf »Curriculum Vitae« von Attila József (seine öffentliche und gleichzeitig poetische Autobiografie) verwiesen.

Balogh selbst macht den Titel eines emblematischen Gedichts von Attila József aus seiner späten lyrischen Phase zum Motto seines zweiten Gedichtbandes: »Also trägt dieses Buch den Titel ›Es schmerzt heftig‹« (Balogh, 1991). »Nagyon fáj« – wörtlich ›Es schmerzt heftig‹ – ist der Titel eines emblematischen Gedichts aus Attila Józsefs später lyrischer Schaffensperiode.

Zusätzlich ist die Perspektive des lyrischen Ichs in diesem Band stark von der narrativen Struktur in Attila Józsefs »Szabad-ötletek jegyzéke« (wörtlich ›Die Liste der freien Ideen‹, 1997) beeinflusst. Das gilt besonders für das Gedicht »Előszó« (wörtlich ›Vorwort‹):

»Du sahst dein Leben wie ein Beobachter von außen,
und wenn eine versuchte, dich zu lieben,
liebtest du dich durch sie.«

Balogh, 1991, 10

Mit folgendem persönlichen Statement zeigt Balogh sowohl, dass der Gedichtband die heutige soziale und moralische Realität hinterfragt, als auch, dass er sich seiner außergewöhnlichen poetischen Situation bewusst ist: »›Szabad-ötletek jegyzéke‹ ist kein Gedicht, sondern die vertraute Wurzel aller Gedichte«, schreibt Balogh in der Zeitschrift »Cigányfúró« (»Gypsy Drill«). In seiner Dichterlaufbahn setzt er öfter die Praxis der Paraphrasierung von Attila József ein, beginnend mit »József Attila a peep-showban« (›Attila József in der Peep-Show‹, 1997).

Die poetische Stimme von Attila Balogh besitzt eine durchgehende Farbe. Die Erfahrung der Diskriminierung findet ihren kraftvollen Ausdruck darin, und die Sprache ist mal naturalistisch, mal pittoresk – und gelegentlich eher konventionell. Baloghs lyrisches Werk wurde 2016 in einer Auswahl veröffentlicht. Die beiden Bände »Óvatos emlékezés« (wörtlich ›Vorsichtige Erinnerung‹) aus dem Jahr 2014 und »A lélek infarktusai« (wörtlich ›Seeleninfarkte‹) aus dem Jahr 2016 erschienen auf Ungarisch in einem transsilvanischen Verlag.

Eine auf Englisch erschienene Auswahl seiner Gedichte trägt den Titel »Gypsy Drill« (2005), das ist die Übersetzung des Namens von Baloghs Mitte der 1990er Jahre gegründeter Kunstzeitschrift »Cigányfúró« (s.u.).

Attila Balogh als Herausgeber

Doch ist auch Attila Baloghs Einfluss als Herausgeber, Kunstmanager und Intellektueller zu erwähnen. Er ist der Gründer und Herausgeber von »Cigányfúró« (»Gypsy Drill«), einer sozialkritischen Avantgarde-Zeitschrift, die von 1994 bis 1998 existierte und der peripheren Literatur gewidmet war. In ihr wurden wissenschaftliche Artikel, Erstübersetzungen, grafische Werke, Gedichte und Essays veröffentlicht.

Die Künstlergemeinschaft konzentrierte sich auf das Thema der Materialität in der Kunst, für den Druck wurde aber nicht nur konventionelles Papier, sondern auch Transparentpapier verwendet, außerdem kamen äußerst ungewöhnliche und experimentelle Drucktechniken zum Einsatz. Am Ende konnte die Zeitschrift jedoch nicht mehr finanziert werden. Die letzte Ausgabe umfasste nur ein einziges Blatt mit Zusammenfassungen möglicher Artikel.

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