Roma-Literatur in Ungarn: Ein Überblick

Suche

Zoltán Beck

Tamás Jónás (* 1973): Dichter, Schriftsteller und Dramatiker

»Es gibt keine ›Zigeunerliteratur‹, wenn aber doch, dann sollte sie es besser nicht geben.«

Tamás Jónás

Das sagte Tamás Jónás 2002 – noch am Anfang seiner Karriere, aber bereits mit einigen ansehnlichen Erfolgen – während eines Interviews für die Zeitschrift »Barátság«. Die Diskussionen über die Kanonisierung von Roma-Literatur stellen sich diesem Problem bereits seit Anfang der 1970er Jahre, wenn auch weniger theoretisch formuliert. Das Dilemma des »Zigeunerschriftstellers« – des »schreibenden Zigeuners« – wird stets mit Károly Bari in Verbindung gebracht. Tamás Jónás’ Aussage beendet diese diskursive Festsetzung jedoch, denn die vollständige Negierung des Syntagmas »Zigeunerliteratur« schafft gleichzeitig den dadurch ermöglichten Diskurs ab. Jónás setzt etwas anderes an dessen Stelle: Der Existenzmodus der Kunst ist für ihn die poetisch-ästhetische Situierung.

Es ist sicherlich zielführend, Tamás Jónás’ Werk sowohl aus nationaler als auch aus internationaler Perspektive zu betrachten. Nach einigen weniger beachteten Gedichtbänden (1994, 1996) erschien 1997 sein erstes Prosawerk unter dem Titel »Cigányidők« (›Zigeunerzeiten‹, s.u.). Die Erzählung wurde zwar nur in einer kleinen Auflage gedruckt, erhielt aber dennoch ausgezeichnete Kritiken. Diese Anerkennung führte dazu, dass sein nächster Gedichtband mit dem Titel »Bentlakás« (›Praktikum‹, 1999) einen großen Verlag fand, was dem Autor die Aufnahme in den Kanon der ungarischen Literatur sicherte.

Würde man Tamás Jónás’ Werke unter Berücksichtigung ihrer zeitgenössischen Rezeption chronologisch anordnen, ergäbe sich eine historische Erzählung. Das Spannende und Revolutionäre an Jónás’ Arbeiten ist die Art und Weise, wie er die sozialen Medien nutzt (vgl. dazu die digitale Roma-Literatur in Russland und in den Balkanstaaten). Vor einigen Jahren begann er, Gedichte aus seinen früher erschienenen Gedichtbänden auf Facebook zu veröffentlichen, und zwar nach Gedichtbänden geordnet. Das tat er mit dem 1996 erschienenen Gedichtband »Nem magunknak« (›Nicht für uns selbst‹) und mit der 1999 erschienenen Gedichtsammlung »Bentlakás«.

Mit dem Posting seiner Werke auf Facebook aktualisierte er die vorher lediglich gedruckt – auf Papier und in Buchform – erhältlichen Gedichte im diskursiven Raum der Gegenwart. Interessanterweise ändert sich dadurch die Rolle des Autors: Er ist nicht länger vom Kunstwerk getrennt, sondern macht sich in gleichem Maße selbst zum Kunstwerk, wie er dazu gemacht wird. Aus dieser Perspektive heraus lassen sich auch seine gesellschaftspolitischen Aktivitäten erklären. So ist er in einem Musikvideo für eine Kampagne zur Pressefreiheit gleichzeitig als Autor und als Performer zu sehen: »Nem tetszik a rendszer« (›Ich mag das System nicht‹).

Die öffentliche Repräsentation des Ichs ist damit nicht länger nur die Repräsentation eines Autors, sondern auch die einer Instanz, die sowohl pausenlos Polyfonien und zahllose Möglichkeiten für Missverständnisse erschafft als auch falsche Lesarten liefert, Originale unterschlägt und schlussendlich Unsicherheit und eine Existenz des in-between kreiert. Eine solche Erfahrung des in-between artikuliert Jónás mithilfe des Erzählers in »Cigányidők«:

»Bist du Árpi? Obwohl ich meinem Vater nachgerate, wurde dieser niemals Árpi genannt. Mein Bruder dagegen schon, ihn nannte man gleichfalls Árpi, obgleich er mir ganz und gar nicht nachschlug.«

Cigányidők, 1997, S. 50

Tamás Jónás hat sich zu einem der wichtigsten Schriftsteller_innen Ungarns entwickelt, vor allem im Bereich der Poesie. Seine letzten Bücher erschienen bei den Verlagen Magvető und Irodalmi Jelen. 2013 publizierte er »Lassuló zuhanás« (›Langsamer Untergang‹), einen der bemerkenswertesten lyrischen Texte in ungarischer Sprache. Seine Werke wurden unter anderem ins Französische und ins Deutsche übersetzt. Auf Deutsch erschienen 2006 und 2008 zwei Übersetzungen von Prosa und Poesie des Autors, zum einen die Anthologie »Als ich noch Zigeuner war«, zum anderen »Fünfunddreißig. Gedichte und Erzählungen«. Sein letzter Roman »Apuapuapu« (wörtlich ›Papa-papa-papa‹) wurde 2013 in einem Verlag in Transsylvanien veröffentlicht, sein letzter Gedichtband erschien 2016 unter dem Titel »Törzs« (›Sippe‹).

Rights held by: Zoltán Beck (text) — Ira Wilhelm (translation) | Licensed by: Zoltán Beck (text) — Ira Wilhelm (translation) | Licensed under: CC-BY-NC 3.0 Germany | Provided by: RomArchive