Länder & Regionen

Suche

Zoltán Beck

Roma-Literatur in Ungarn: Ein Überblick

Die Anfänge der Roma-Literatur in Ungarn

Im Zuge der Entwicklungen eines nationalen Narrativs war in den literarischen Bewegungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert ein wachsendes Interesse für die Kultur von Sinti und Roma zu verzeichnen. So lernte zum Beispiel Erzherzog Joseph Karl (1833-1905) Romani. Dabei wurde er von Ferenc Sztojka Nagyidai (1855 - ?) unterstützt, den der Erzherzog in einem Brief »oslokavégzett czigány«, wörtlich übersetzt den »gelehrten Zigeuner«, nannte.

Ergebnis dieser außergewöhnlichen Zusammenarbeit war die erste systematische Grammatik einer Variante des Romani, die unter dem Titel »Ő császári és magyar királyi fensége József Főherceg Magyar és czigány nyelv gyök-szótára« (›Wörterbuch der Wortstämme des Zigeunerischen und der ungarischen Sprache durch die Kaiserliche Hoheit, Erzherzog Joseph‹, 1886) in vier Teilen erschien. Selbst ein Dichter, veröffentlichte Nagyidai in diesem Werk auch seine Übersetzungen liturgischer Texte und der Lyrik zeitgenössischer ungarischer Autoren (darunter Gedichte von Sándor Petőfi) sowie das von ihm selbst verfasste, erste Roma-Epos mit dem Titel »A cigányok vándorlása« (›Die Wanderungen der Zigeuner‹).

Weitere berühmte Roma-Autoren des 19. Jahrhunderts sind János Balogh Ipolysági (1802–1876) und József Boldizsár (1825–1878). Beide waren auch Musiker. Ipolysági spielte eine wichtige Rolle bei der Erstellung einer systematischen Grammatik des Romani. Seine Übersetzungen wurden in der »Összehasonlító Irodalmi Lapok« (›Zeitschrift für Vergleichende Literatur‹) in Kolozsvár veröffentlicht.

Ungarische Roma-Literatur in den 1970er Jahren

Der wichtigste Entwicklungsschritt in der Roma-Literatur war in der ersten Hälfte der 1970er Jahre die Herausgabe von Károly Baris (*1952) erstem Gedichtband »Holtak arca fölé« (wörtlich ›Über dem Gesicht der Toten‹), der 1970 in einer hohen Auflage erschien. Die Gedichte besaßen den lyrischen Ton der modernen ungarischen Lyrik und waren stark von der poetischen Sprache der Autoren Attila József, Ferenc Juhász und László Nagy beeinflusst. Der berühmte ungarische Dichter Sándor Csóry nannte den bei der Verfassung der Gedichte sechszehn Jahre alten Poeten »táltosfiú« (wörtl. ›Orakeljunge‹). Dénes Csengey weist in seinen beiden Studien zur Geschichte der literarischen Form (1986, 1988) auf Baris großen Einfluss auf die Entstehung eines literarischen Kanons hin. Zweifelsohne war Baris Wirken für die moderne ungarische Lyrik der 1970er und 1980er Jahre von großer Bedeutung. Später wandte er sich dem Übersetzen zu und betrieb außerdem mit großem Erfolg Forschungen zur Roma-Folklore.

Die Anfänge der Prosaliteratur von Rom_nja in Ungarn sind eng mit Menyhért Lakatos (1926-2007) verbunden. Sein erster großer Roman erschien 1975. Er trägt den Titel »Füstös képek« (deutsch erschienen als »Bitterer Rauch«, englisch als »The Color of Smoke«) und erzählt die mehrere Jahrzehnte umfassende Geschichte einer Roma-Gemeinschaft. Halb autobiografisch, halb fiktional, bietet der Roman eine Mikro-Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts, die in den Deportationen der Rom_nja gipfelt.

Die ungarische Ausgabe wurde mehrfach neu aufgelegt. Das Werk ist wie das gesamte Oevre Lakatos’ von einer Mischung aus verschiedenen Genres und Sprachen geprägt. In seinem ambitionierten Groß-Epos achtete er sowohl auf eine persönliche Note wie auch auf soziografische Präzision, wobei er Anekdoten, kurze Geschichten und Passagen in Romani in den ungarischen Haupttext integrierte. Außer diesem Roman veröffentlichte Lakatos eine Sammlung von Kurzgeschichten mit dem Titel »Csandra szekere« (1981; auf Deutsch 1984 erschienen als »Csandras Karren«) und schrieb Märchen, diverse Geschichten und Drehbücher für das Fernsehen.

Dániel Holdosi | József Holdosi | Fotografie | Ungarn | lit_00649 Rights held by: Dániel Holdosi | Licensed by: Dániel Holdosi | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Dániel Holdosi – Private Archive

1978 verfasste József Holdosi (1951–2005) seinen ersten Roman mit dem Titel »Kányák«. Der Titel bezeichnet einen Familiennamen und bedeutet wörtlich ›Die Kányás‹. Die Erstveröffentlichung des Romans führte in Ungarn zu einem Eklat, da sich einige Personen (vorwiegend aus dem Verwandtenkreis des Autors) durch die Beschreibung von Personen, Orten und Ereignissen in den realistisch geschilderten Teilen der fiktiven Geschichte wiederzuerkennen glaubten. Der Autor musste sich kurz nach der Veröffentlichung deshalb vor Gericht verantworten. Dieser Prozess bildete die Grundlage für Holdosis Radiohörspiel »Hajh, cigányok, hajh, Kányák!« (›Ho, Zigeuner, ho‚ Kányás!‹), welches dann wiederum Teil eines Buch mit dem Titel »Cigánymózes« (›Zigeuner Mozes‹, 1987) wurde.

Holdosis Texte sind stark von der literarischen Technik des Gabriel García Márquez beeinflusst. Das gilt vor allem für das Raum-Zeit-Verhältnis im Roman, bei dem das Transzendente untrennbar mit den weltlichen Ereignissen, Träumen und Wirklichkeiten verknüpft ist. Auf diese Weise sind symbolische Handlungen in die Realität des Romans integriert. Trotz des handlungsbezogenen und ereignisreichen Charakters der Geschichte bleibt der Erzählton stets lyrisch.

»Kányák« wurde sowohl ins Deutsche als auch ins Polnische übersetzt. Die deutsche Übersetzung stammt von Peter Scharfe und erschien 1984 unter dem Titel »Die Straße der Zigeuner«. 2014 gab es eine Neuauflage dieser Übersetzung mit dem geänderten Titel »Die gekrönten Schlangen«. Die Rezeption des Romans zeigt, dass der Text die Leser_innen (siehe Erich Hackl, Magische Prosa der Roma) auch noch nach 40 Jahren anspricht.

Attila Balogh (*1956) erlangte mit seinem 1980 veröffentlichten Werk »Lendítem lábamat« (wörtlich ›Ich schwang mein Bein‹) in der ungarischen Literatur große Aufmerksamkeit. Seine freien Verse sind einerseits in ihrem gesellschaftskritischen Ansatz und der bewussten Bildsprache von den Gedichten Attila Józsefs inspiriert, andererseits von der Tradition der Avantgarde, der zeitgenössischen ungarischen Groteske mit ihrem bewussten Einsatz von Zeichen. Diese ästhetische und moralische Sichtweise bestimmt nicht nur Baloghs zweiten Gedichtband, der 1989 während des Regimewechsels veröffentlicht wurde, sondern auch die von ihm gegründete und herausgegebene Kunstzeitschrift »Cigányfúró« (in Englisch erschienen unter dem Titel »Gypsy Drill«). 2014 veröffentlichte Balogh den Gedichtband »Óvatos emlékezés« (wörtlich ›Vorsichtige Erinnerung‹), dem zwei Jahre später die Gedichtsammlung »A lélek infarktusai« (wörtlich ›Seeleninfarkte‹) folgte.

Béla Osztojkán (1948–2008) debütierte in den frühen 1980er Jahren als Dichter und Autor von Prosa. Nicht nur sein Gedichtband »Halak a fekete citerában« (wörtlich ›Fische in der schwarzen Zither‹; 1981), sondern auch die fiktive Prosa »Nincs itthon az Isten« (wörtlich ›Gott ist nicht zu Hause‹; 1985) handeln von den Problemen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Der Autor ist stark von den Ikonen der ungarischen Dichtkunst, Endre Ady und Attila József, beeinflusst. In seiner Prosa verbindet Osztojkán die Erzähltradition des Gabriel García Márquez mit dem balladenartigen Charakter der ungarischen Epik. Osztojkáns letzter großer Roman trägt den Titel »Átyin Jóskának nincs aki megfizessen« (wörtlich ›Keiner zahlt für Jóska Átyin‹; 1997).

Die zweite Generation von Roma-Autoren in Ungarn

In poetischer Hinsicht unterscheiden sich die im Folgenden genannten Autor_innen kaum von ihren Vorgängern. Außerdem fällt ihr literarisches Debüt nicht notwendigerweise mit ihrem sozialen Engagement als prominente Personen des öffentlichen Lebens zusammen. Im Unterschied zur früheren Generation von Roma-Autoren entwickelten die in den 1980er Jahren debütierenden Autor_innen für ihre eigene Generation kein umfassendes literarisches Programm. Dennoch interessierten sie sich bis in die späten 1990er Jahre für dieselben Themen und Probleme, denen sich die Autoren der ersten Generation widmeten. Da sich aber die historischen und kulturellen Gegebenheiten in und nach den 1970er Jahren entscheidend änderten, verarbeitete die jüngere Generation diese Themen auf eine ganz andere, neue Weise.

Die sogenannte ›Generation der Schwarzen Koralle‹ (»Fekete korall nemzedéke«) lieh sich ihren Namen vom 1981 erschienenen Gedichtband »Fekete korall« (›Schwarze Koralle‹) von József Choli Daróczi (1939-2018). Der Autor und Herausgeber Daróczi war eine Kultfigur unter Roma-Intellektuellen. Seine literarischen Übersetzungen ins Romani erweiterten den Textkorpus der Literatur auf Romani entscheidend. Anfang der 1990er Jahre veröffentlichte er zwei sehr einflussreiche Werke, beide mit eigenen, zweisprachig auf Ungarisch und Romani abgedruckten Gedichten: »Isten homorú arcán / Pel Devlesko bango muj« (wörtlich ›Über das konkave Gesicht Gottes‹; 1990) sowie Übersetzungen ungarischer klassischer Werke ins Romani: »Csontfehér pengék között« (wörtlich ›Zwischen knochenweißen Klingen‹; 1991). Zusammen mit Levente Feyér verfasste Daróczi das populärste Sprachbuch in Romani. Es trägt den Titel »Zhanes Romanes?« (›Sprechen Sie Romani?‹) und erschien 1988.

Hontalan József Kovács (*1950) begann seine Karriere als Dichter und Publizist in den 1980er Jahren und veröffentlicht seit 1991 regelmäßig. Seine erste Gedichtsammlung trug den Titel »Ismeretlen cigányének« (wörtlich ›Das unbekannte Zigeunerlied‹; 1991). Ähnlich wie bei den Generationsgenoss_innen und den Autoren der ersten Generation spiegeln Kovács’ Werke die öffentlichen Rolle des Autors wider. Seine früheren Werke wurden gedruckt, als um 1989 der Ostblock zusammenbrach. Kovács’ Bedeutung als Autor hat nicht nur einen literarischen, sondern auch einen gesellschaftlichen Aspekt, daher ist der Ich-Erzähler in den Werken von der Person des Autors oft nur schwer zu unterscheiden. Es ist kein deutlich erkennbares lyrisches Ich in den Gedichten zu erkennen:

»Rom som
azaz ember
és cigány vagyok

cigány az
aki a cigány
néphez tartozik (...)«

»Rom som
das heißt,
ich bin ein Rom

ein Rom ist,
wer zum Zigeunervolk gehört (...)«

(Gyurkó & Kovács 1999: 91)

Auf Romanes lauten diese Verse:

»rom sim
feri murs
thaj rom sim

rom ko
kaj rom inkrelpe (...)«

(ebd., 90)

Hontalan József Kovács

Der lyrische Charakter der Texte betrifft nicht allein die spezifische Verwendung der Sprache, sondern ergibt sich auch durch die besondere Darstellung der poetischen Wirklichkeit, die deutliche Bezugspunkte schafft und das Gedicht zu einer Art Bekenntnis werden lässt. Kovács’ gesellschaftskritische Haltung kommt am deutlichsten in einem 1997 unter dem Titel »A nemzet szemétdombjai« (wörtlich ›Die Müllhalden der Nation‹) erschienenen Interviewband zum Ausdruck.

Ein Bewusstsein für gesellschaftliche Problematiken findet sich auch in der Lyrik und in der Prosa von József Szepesi (1948–2001). Sein erstes Werk »Elszórtan, mint a gyom« (wörtlich ›Wie Unkraut zerstreut‹; 1983) wurde kaum beachtet. Seine lyrischen Texte zeichnen sich durch strenge poetische Formen aus: Sie gehorchen metrischen Vorgaben und sind in Sonettform verfasst, um einen starken Kontrast zur naturalistischen Darstellung der gesellschaftlichen Realität zu bilden. Szepesis letztes Buch mit dem Titel »A mámor templomában« (wörtlich ›Im Tempel des Rausches‹) erschien 1993.

Magda Szécsi (*1958) ist eine bedeutende Autorin der ungarischen Gegenwartsliteratur, vor allem, was die Frauenliteratur der letzten Jahrzehnte betrifft. Ihr vielfältiges Œuvre umfasst lyrische Texte, kürzere und längere belletristische Prosa, Märchen und Theaterstücke. Sie ist aber auch als bildende Künstlerin bekannt, vor allem für ihre Zeichnungen in Tusche und Filzstift. In den Zehnerjahren des 21. Jahrhunderts konzentrierte sie sich auf belletristische Prosa. Einige ihrer Texte erschienen in der Anthologie ungarischer Autorinnen mit dem Titel »Szomjas oázis« (wörtlich ›Durstige Oase‹; 2007). Sie veröffentlichte zwei Bände mit belletristischer Prosa: 2005 »Időtépő« (wörtlich ›Zeit-Zerreißer‹) und 2007 »Cigánymandala« (wörtlich ›Zigeuner-Mandala‹).

Magda Szécsi erzählt realistisch, manchmal polemisch und kritisch. Ihre literarische Stimme zeichnet sich durch ein hohes Maß an Reflexivität aus, nicht allein bezüglich der inneren, sondern auch der äußeren gegenwärtigen Realität des Textes. Das macht ihre Erzählsprache besonders lebendig und dynamisch.

Géza Csemer (1944–2012) kam ursprünglich vom Theater, wandte sich aber später der Literatur zu. Er war Dramaturg, Regisseur und Theatergründer. Er verstand sich selbst als ein »sozialer Akteur«. Dieses Selbstverständnis findet sich in seinen Arbeiten wieder und kennzeichnet seine Texte. Durch »Habiszti« (1994) wurde er einem größeren Publikum bekannt. In diesem Almanach liefert er ein soziohistorisches Tableau der Gesellschaft von Roma-Musiker_innen, es finden sich aber auch Anekdoten und Biografien von Musikerdynastien darin, ja sogar Kochrezepte. Aus diesem Grund kann man es durchaus als ein alternatives Geschichtsbuch des 19. und 20. Jahrhunderts bezeichnen.

In seinem Roman »Szögény Dankó Pista« (wörtl. ›Armer Pista Dankó‹; 2001) erzählt Csemer die Geschichte des berühmten Primgeigers. Es handelt sich um eine ambitionierte und sehr genaue Biografie, die sowohl wissenschaftlichen als auch literarischen Ansprüchen genügt. Géza Csemers gesammelte Theaterstücke wurden 2004 veröffentlicht.

Tamás Jónás (1973)

»Es gibt keine Zigeunerliteratur, wenn aber doch, dann sollte sie es besser nicht geben«

Tamás Jónás

sagte Tamás Jónás in einem Interview mit György Kerényi (2002, 3770).

Tamás Jónás’ ersten beiden Gedichtbände – »Ahogy a falusi vén kutakra zöld moha települ« (wörtlich ›Wie Moos auf einem altem Dorfbrunnen‹; 1994) und »Nem magunknak« (wörtlich ›Nicht für uns selbst‹; 1996) – erregten noch nicht viel Aufmerksamkeit. 1997 erschien dann sein erstes größeres Werk, der Roman »Cigányidők« (wörtlich ›Zigeunerzeiten‹), der sehr lobend von Péter Eszterházy rezensiert wurde.

Jónás’ außergewöhnlicher Gedichtband »Bentlakás« (wörtlich ›Praktikum‹; 1999) katapultierte den Autor ins Zentrum der ungarischen Literatur. Seither publiziert er regelmäßig Prosa und Lyrik in wichtigen Literaturzeitschriften, schreibt Beiträge für die sozialen Medien, lehrt kreatives Schreiben und arbeitet mit einem Theater in Transsylvanien zusammen. 2013 kam sein Erzählband »Apuapuapu« (wörtlich ›Papa-papa-papa‹) heraus. Ein weiterer Gedichtband aus dem Jahr 2016 trägt den Titel »Törzs« (wörtlich ›Sippe‹). Zwei seiner Werke sind auf Deutsch erschienen: »Als ich noch Zigeuner war« (2006) und »35. Gedichte und Erzählungen« (2008).

Jónás interessiert sich nicht nur für Roma-Kultur und Roma-Literatur, sondern für alle Daseins- und Lebensformen. Er repräsentiert so einen Wandel in der Schreibtradition, indem er sich von dem traditionellen System der binären Oppositionen entfernt. Er schildert das Leben nicht nur aus einer normativen sozialen Position heraus, sondern interpretiert die fiktiven Gemeinschaften mit dem Blick des Individuums. Diese Veränderung in der Erzählperspektive führt zu einer neuen Erzählstimme, zu einer Literatur, die sehr modern und lebendig ist, und zu einem literarischen Ton, der nicht hochgestochen, sondern direkt aus dem Alltag gegriffen ist.

Rights held by: Zoltán Beck (text) — Ira Wilhelm (translation) | Licensed by: Zoltán Beck (text) — Ira Wilhelm (translation) | Licensed under: CC-BY-NC 3.0 Germany | Provided by: RomArchive