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Katharina Janoska

»All das hat doch nichts mit uns zu tun« Erfahrungen mit dem Thema »Literatur von und über Roma«

In meiner Familie wurde selten über unsere Abstammung gesprochen – nicht weil irgendjemand sich schämte oder etwas zu verbergen versuchte, sondern weil es eben kein besonderes Thema für uns war.

Als ich älter wurde und mich mehr mit mir und meiner Geschichte auseinanderzusetzen begann, versuchte ich, in den Büchern mehr über das mir fremde Volk der Sinti und Roma herauszufinden. Ich erschrak, als ich die ersten Abschnitte aus diversen Werken las.

Ein bekanntes Beispiel findet sich in »Geschichte der Zigeuner; ihre Herkunft, Natur und Art« von Theodor Tetzner von 1835 (S. 94), in dem Roma wie folgt beschrieben werden:

»Man darf aber hier, wenn von den Gewerben der Zigeuner die Rede ist, nicht an unsere Handwerker denken, die im Schweiße des Angesichts ihr Bro[t] essen; nein, was Anstrengung und Stätigkeit verlangt, ist kein Geschäft für diese Lotterbuben, die nur faullenzen wollen und höchstens etwas vornehmen, wobei ihnen recht viel Zeit zum Nichtsthun bleibt.«

Besonders auffallend ist an diesem Werk die Kapiteleinteilung. So gibt es zum Beispiel Kapitel über Nahrung, Kleidung, Aussehen, körperliche Beschaffenheit oder Art der Sinti und Roma. Beschrieben werden die Mitglieder der Volksgruppe eigentlich als eine Art Fabelwesen, die nichts mit realen Menschen zu tun hat.

Der Versuch, das »Wesen der Zigeuner« zu ergründen und zu dokumentieren, findet sich häufig in dieser Art von Schriften. Es scheint, als würde die Volksgruppe beinahe belächelt und nicht ernst genommen werden. »All das hat doch nichts mit uns zu tun«, dieser Gedanke kreiste mir beim Lesen permanent im Kopf herum.

Je mehr ich mich mit dem Thema »Sinti und Roma in der Literatur« auseinandersetzte, desto größer wurde meine Wut, meine Verzweiflung und mein Wunsch, etwas ändern zu wollen. Mein Vater sagte damals zu mir:

»Sei dir dessen bewusst: Wenn du öffentlich mit deiner Abstammung umgehst, wirst du doppelt so hart arbeiten müssen wie die anderen.«

Erst viele Jahre später begriff ich seine Worte, und sie kamen mir wieder in den Sinn, als ich bei meinem Professor zur Besprechung meiner Diplomarbeit saß (»Literatur von und über Roma: Unterschiede und Gemeinsamkeiten« – dies war der Titel, welchen ich für das Studium Vergleichende Literaturwissenschaft 2012 an der Universität Wien einreichte).

Er fragte mich, ob ich mir denn sicher sei, dass ich trotz meiner Abstammung wissenschaftlich und objektiv arbeiten könne. Ich bejahte dies natürlich, ohne zu wissen, dass mich genau dieser Umstand während des Schreibens der Arbeit fast an meine Grenzen der Neutralität bringen würde: als Mensch, als Romni, als Frau.

Ein Typ der Beschreibung, der häufig in der Literatur von Nicht-Roma über Sinti und Roma vorkommt, ist »Die Zigeunerin als Verführerin« (siehe Bildende Kunst und Film Sektion). Meistens handelte es sich hierbei um ein junges, hübsches (vermeintliches) Roma-Mädchen, das einen Nicht-Rom in seinen Bann zieht. Eines der bekanntesten Beispiele ist Esmeralda in Victor Hugos »Der Glöckner von Notre-Dame« von 1831.

Die »Zigeunerin« nimmt hierbei eine ambivalente Haltung ein. Sie ist die Verführerin, die Exotin und somit die Versinnbildlichung der geheimen erotischen Wünsche des Bürgertums. Auf der anderen Seite bedeutet sie, eben durch ihre Anders- und Fremdartigkeit, immer auch eine Gefahr für die Moral und Religiosität der anderen.

Die Menschen fühlen sich durch das Geheimnisvolle gleichermaßen bedroht wie auch angezogen. Die Figur symbolisiert das Verbotene, das, eben weil es verboten ist, umso verlockender wirkt.

Daher sind diese Protagonistinnen häufig harten Sanktionen ausgesetzt, weil man hierbei nicht nur die Fremden bestraft, sondern auch die eigene Anziehung zu unterdrücken versucht und die Gefahr der Sünde somit im Keim erstickt.

Sintizze und Romnija werden in diesem Klischee zwar immer noch am Rande der Gesellschaft verortet, aber sie sind die Verführerinnen, sie sind mystisch und können jeden in ihren Bann ziehen. Sie werden Ausdruck für die geheimen Sehnsüchte und Wünsche der Gesellschaft. Werden sie zuvor in wissenschaftlichen Texten noch als hässlich beschrieben, so kann nun kein Mann der Schönheit der »geheimnisvollen Zigeunerin« widerstehen.

Natürlich erweckt dies bei vielen ein falsches Bild, und man ist gezwungen, sich zu rechtfertigen – und genau das ist der Punkt: Die Literatur war jahrhundertelang, bevor es Fernsehen, Radio und Internet gab, eines der wichtigsten Medien, um die Menschen in ihrem Denken und ihren Ansichten zu beeinflussen.

Die rassistischen Beschreibungen der Sinti und Roma in der Literatur förderten die Ausgrenzung, die Verfolgung und den Hass gegenüber der Minderheit und kreierten Vorurteile, die sich teilweise bis heute halten.

Diese Faktoren hatten wiederum großen Einfluss auf das Leben und die Entwicklung von Sinti und Roma – und das wiederum auf ihre eigene Literatur. Somit lässt sich – und dies versuchte ich in meiner Diplomarbeit nachzuempfinden – ein großer Zusammenhang, ein literarischer und soziologischer Kreislauf feststellen.

In der Literatur der Sinti und Roma lässt sich das besonders gut analysieren: Themen wie Aufarbeitung der Verfolgung, Ermordung und Diskriminierung und das Roma-Sein lassen sich sehr häufig finden. Die Literatur von Ceija Stojka, Mongo Stojka, Stefan Horvath, Ilija Jovanović, Tamás Jónás, Bert Pertrup, Nedjo Osman (siehe auch das Roma-Theater »Pralipe«) und vielen anderen legt Zeugnis davon ab.

Meine Diplomarbeit ist ebenfalls ein Resultat all dessen: Hätte ich nicht so viel Schreckliches in der Literatur über Sinti und Roma gelesen, hätte ich nie eine Arbeit geschrieben, in der auch Sinti und Roma selbst zu Wort kommen und man nicht, wie so oft, nur über »uns« spricht. Ich selbst bin somit der beste Beweis des beschriebenen Kreislaufes.

Diese durch die Dichtung kreierten Bilder halten sich in den Köpfen der Menschen teilweise sogar bis heute. Mit dem Begriff »Zigeuner« wurde eine Art Kunstbegriff geschaffen, dies wird unter anderem an der Bezeichnung diverser Lebensmittel und Speisen deutlich. Der »Zigeuner« wurde zum Produkt gemacht.

Sinti und Roma hatten nie die Chance, etwas anderes zu sein als jene Fabelwesen, die der Fantasie der Dichter_innen und der Gesellschaft entsprungen sind. Wann Sinti und Roma als Menschen – und nur als diese – angesehen, respektiert und akzeptiert werden, bleibt abzuwarten.

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