Theater und Drama

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Helios Fernández Garcés

Der Beginn des Roma-Theaters in Spanien

Es ist bezeichnend, dass in Spanien die Anfänge einer offenen, kritischen Auseinandersetzung mit dem Rassismus gegen Rom_nja in der Welt des Theaters zu finden sind, noch dazu im vielschichtigen soziokulturellen und politischen Gewand des Flamencos. Anders als gemeinhin angenommen sind Rom_nja im spanischen Theater immer präsent gewesen.

Außerdem hat sich der Flamenco seit seinem endgültigen Hervortreten im Laufe des 19. Jahrhunderts zwangsläufig in die Konflikte und Verzerrungen der Identität eingeschrieben: durch die Gitanos gezeigt werden und durch die Gitanos sich weitgehend selbst definieren würden.

Es sind gesellschaftlich höchst engagierte Stücke, und sie antworten auf ein historisches Bedürfnis der Rom_nja, indem sie das Gedächtnis eines zu Unrecht unterdrückten Volks aufschließen.

In den Jahren nach Francisco Francos Tod im Jahr 1975, auf die sein diktatorisches Regime noch ein letztes Licht wirft, erleben wir eine entscheidende Wende mit zwei fundamentalen Bühnenwerken des Flamencos, die symbolisch und für immer, ein jedes auf seine Weise, die Geschichte der Rom_nja und ihrer fragilen politischen Situation nach 479 Jahren systematischer Unterdrückung durch die spanischen Institutionen verändern: »Camelamos Naquerar« (1976) und »Persecución« (1979). Es sind gesellschaftlich höchst engagierte Stücke, und sie antworten auf ein historisches Bedürfnis der Rom_nja, indem sie das Gedächtnis eines zu Unrecht unterdrückten Volks auf kathartische Weise aufschließen.

»Camelamos Naquerar«: die würdige Anklage angesichts des erzwungenen Schweigens

»Camelamos Naquerar« (»Wir wollen sprechen« auf Caló) aus dem Jahr 1976 ist ein Meilenstein im Flamencotheater, die intelligente, totale Verschmelzung von sozialer Anklage, cante, baile und toque (Gesang, Tanz und Instrumentalspiel im Flamenco), von engagierter Geschichtsschreibung und feinster Poesie. Bis heute findet das Stück kaum seinesgleichen, und seine Aussage hat weiterhin Gewicht angesichts der Umstände, unter denen die Rom_nja auf der iberischen Halbinsel leben.

José Heredia Maya (1947–2010), eine so legendäre wie einzigartige Gestalt, Dichter, Dramatiker und Professor an der Universität Granada, entwickelte die revolutionäre Idee eingespannt zwischen den Poetikvorlesungen und dem Seminar für Flamencostudien; heute gilt er als einer der bedeutendsten Granadiner Intellektuellen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Von Antonin Artauds »Theater der Grausamkeit« über Jerzy Grotowskis »armes Theater« und den Einfluss Bertolt Brechts bis hin zum Theater Erwin Piscators verstand José Heredia es in »Camelamos Naquerar«, mit bemerkenswerter ästhetischer Einfachheit und einer semantischen Eleganz, wie sie nur schwer zu erreichen ist, die Elemente zusammenzubringen, die er seiner Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Theater verdankte, und das mit durchschlagendem Erfolg.

Produziert von José María Ojeda, mit einem Text und Gedichten von José Heredia Maya selbst, hatte das Stück Premiere unter der Regie des herausragenden Flamencotänzers und Choreografen Mario Maya Fajardo und mit den Stimmen von Gómez de Jerez und Antonio Cuevas »El Piki«, dem Tanz von Concha Vargas und den Gitarren von Pato Cortés und José Valle »Chuscales«. Auf einer Tournee durchs Land provozierte es die unterschiedlichsten kollektiven Reaktionen.

Die Unterdrückung der Gitanos muss unverzüglich aufhören.

Die fortschrittliche Presse bejubelte diesen unverstellten Schrei der Würde, während bestimmte faschistische Gruppen, die seinerzeit aktiv waren – wie die sogenannte PRD (»Demokratische Rassenpartei«) –, gegen die Mitglieder der Truppe hetzten und sie bedrohten. So versuchten sie etwa, eines der Theater in Brand zu stecken, an denen »Camelamos Naquerar« aufgeführt werden sollte. Das Stück beschränkte sich nicht allein darauf, die historischen Gründe aufzuzeigen, weshalb die Rom_nja auf dem spanischen Staatsgebiet in einer Art archaischem und andauerndem inneren Exil verharrten. Es richtete auch eine so hoffnungsvolle wie fordernde Botschaft an die politisch Verantwortlichen, ab sofort keinen Raum mehr für die Unterdrückung der Rom_nja zu geben.

Der Einfluss der Aufführung auf die Entstehung einer assoziativen Bewegung der spanischen Rom_nja war so groß, dass die letzten vier Anti-Roma-Gesetze in den Vorschriften der Guardia Civil – 1978 angeprangert von dem Abgeordneten Juan de Dios Ramírez Heredia – in dem revolutionären Schwung, den »Camelamos Naquerar« dem kollektiven Bewusstsein der Zeit verlieh, abgeschafft wurden.

Miguel Alcobendas | Camelamos Naquerar | Fiction | Spanien | 1976 | fil_00149 Rights held by: Miguel Alconbendas — José Heredia Maya — Mario Maya | Licensed by: Edificio EGEDA | Licensed under: Rights of Use | Provided by: Edificio EGEDA (Madrid/Spain)

»Persecución«: von Herz zu Herz, gegen den Schmerz die Freude

Die Idee, das Flamenco-Album »Persecución« (Verfolgung, 1978) für die Bühne zu adaptieren, entstand auf eine so ungewöhnliche wie unerwartete Weise. Der 1948 geborene Francisco Suárez Montaño, gefeierter Dramatiker aus der Extremadura – dreimal Leiter des Theaterfestivals von Mérida und mit einer langen und landesweit erfolgreichen Karriere gesegnet –, hörte die Aufnahme mit Texten des Dichters Félix Grande und der Interpretation von Juan Peña »El Lebrijano« zum ersten Mal auf einer Fahrt mit seiner Familie im Auto. Er war tief bewegt von der rauen poetischen Erzählung und der ästhetischen Kraft, mit der die Erlasse gegen die Rom_nja ihr schreckliches Gesicht zeigten – Gesetze und Dekrete, die zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert einen einzigen Raum der Belagerung schufen.

Francisco Suárez hat seiner Community, als Teil seines umfassenden Werks, eine ergreifende Trilogie gewidmet, angefangen mit »Persecución« (1978) und gefolgt von »Romancero Gitano« (2005) und »Ítaca« (2006). Dafür begann er eine beharrliche Tour auf der Suche nach entsprechender Unterstützung, womit er zum geistigen Botschafter einer Sehnsucht und eines Herzenswunschs wurde: aus »Persecución« ein Musiktheater zu machen, auf dass, wie José Luis Ortiz Nuevo es in einer Kritik nach der Uraufführung in Sevillas Theater Lope de Vega ausdrückte, aus Schmerz Freude werde.

Zwei Wochen lang wurde »Persecución« ununterbrochen gespielt und begeisterte das Publikum, rührte Rom_nja wie Nicht-Rom_nja zu Tränen, zeigte eine für viele Menschen unbekannte historische Wirklichkeit und erschloss ganz bewusst eine lebendige Alternative zur Geringschätzung, zur Ausgrenzung, zur Knechtschaft: die rebellische Freude der Rom_nja. Auf einer Tournee, die durch einen großen Teil Andalusiens führte und in Badajoz endete, riss Francisco Suárez Montaño Vorstellung für Vorstellung das Publikum von den Stühlen: mit den Stimmen von Juan Peña Fernández »El Lebrijano« , Romerito de Jerez und »Chiquetete«, dem Tanz von »El Farruco«, »La Farruca«, Pilar Montoya, Angelita Vargas, Joselito »El Biencansao«, Juan Carrasco und Pilar Gómez, den unvergleichlichen Gitarren von Enrique de Melchor, Pedro Bacán, Ramón Amador und Carlos Heredia sowie dem Schauspiel von Ana Galván, Juan Carlos Ramos, Joaquín Foncueva und Manuel Alcántara.

Anders als »Camelamos Naquerar«, dem aber nicht entgegenstehend, wollte die Bühnenadaptation von »Persecución« nichts anprangern. Sie stellte lediglich eine unleugbare, von Blut gefärbte Realität dar und bot mit der traditionellen Widerstandsfähigkeit der Sinti und Roma gegenüber dem Leid, das ihnen in der Geschichte zugefügt wurde, einen stimmigen emotionalen Ausweg an.

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