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Belén Maya

Mario Maya – Ein Roma-Revolutionär

Ich weiß nicht, mit wem, und noch weniger, wo ich anfangen soll. Wie soll ich diese Handbewegung erklären, mit der »El Farruco« die Welt stillstehen lässt? Oder wie lässt sich diese Frau gewordene Urgewalt namens Manuela Carrasco oder der kluge und strahlend schöne Kopf von »El Güito« beschreiben? Gonzalo hat Mitleid mit mir und schlägt vor, ich solle über meinen Vater schreiben, damit ich mich wohler fühle.

Mein Vater, Mario Maya

Schon immer sind Künstler_innen zu mir gekommen, um Anekdoten zu erzählen, die sie mit ihm erlebt haben. Nun aber wenden sich Tag für Tag mehr Gitanos und Gitanas an mich und erinnern daran, dass er ein Revolutionär war – jemand, der auf der Bühne über Unterdrückung und Diskriminierung sprach, als du dafür noch im Gefängnis landen konntest.

In Stücken wie »Ceremonial«, »Camelamos Naquerar«, nach den Gedichten von José Heredia Maya1 und »Ay Jondo«, nach der Lyrik von Juan de Loxa, fand mein Vater einen Ausdruck für seine Unruhe und seine Visionen: in der Verbindung von innovativer Herangehensweise, Musik, Wut und harter Arbeit.

Miguel Alcobendas | Camelamos Naquerar | Fiction | Spanien | 1976 | fil_00149 Rights held by: Miguel Alconbendas — José Heredia Maya — Mario Maya | Licensed by: Edificio EGEDA | Licensed under: Rights of Use | Provided by: Edificio EGEDA (Madrid/Spain)

Ich weiß noch, wie er mich besuchen kam (damals waren meine Eltern bereits getrennt) und mir die Gedichte vorlas – wie ein Kind, das ein neues Lieblingsspielzeug präsentiert. Und am Ende fragte er mich, welches Gedicht mir am besten gefallen habe ... Mein Vater hat mich immer zum Nachdenken angeregt.

»... wie der Baile Gitano auch Schule machen und eine Philosophie entwickeln kann, die über die Zeiten Bestand hat.«

Er revolutionierte den Tanz der spanischen Rom_nja aber nicht nur, indem er zum Beispiel den Text der Pragmatiken der Katholischen König_innen auf die Bühne brachte, die Gitanos und Gitanas das Abschneiden von Ohren, Zungen und Händen und Schlimmeres androhten. Er gab dem Tanz neue Formen, die bis heute überdauern, und davon möchte ich reden: wie der Baile Gitano dir nicht nur binnen einer Sekunde das Hemd und das Herz zerreißen2, sondern auch Schule machen und eine Philosophie entwickeln kann, die über die Zeiten Bestand hat.

Vorstellungskraft und Gehör als Arbeitsmethoden

Mario Maya begann zu inszenieren: Er sang dir die Idee und beschrieb dir das Bild, damit du es dir im Kopf ausmaltest, während er dir die Musik vorspielte. In mir entwickelte sich dadurch eine kinematografische Vision von der Choreografie – eine Fähigkeit, Szenen, Bewegungen und Farben zu visualisieren, die mir sehr zugute gekommen ist.

Die Arbeit mit der Musik war ihm besonders wichtig. Die Musik zu verstehen, ihre Erzählweise, ihre Subtilitäten und Stimmungswechsel. Intensiv widmete er sich der szenischen Bewegung – der Bühne als Raum, den es zu erfüllen, zu besetzen, zu spüren und als ein weiteres Instrument im Dienst der erzählten Geschichte zu bespielen galt. Eingeübt wurden nicht Schritte an sich, sondern szenische Konzepte; wie sich der Raum und die Schritte nutzen ließen, um eine Figur, eine Erzählung zu entwickeln. Für einige seiner Stücke schrieb Mario Maya selbst das Drehbuch – und auch für einen Film, »Llanto por Ignacio Sánchez Mejías«, den er aber leider nicht mehr verwirklichen konnte.

An die konkrete Choreografie setzte er sich erst am Schluss der Inszenierung. Er sagte immer, Schritte gäbe es Tausende, aber gute Ideen nicht, und zumeist ließ er seine Tänzer_innen einen Großteil der Choreografie zunächst selbst entwickeln und passte sie danach seinen Ideen an.

Wenn er in einem Projekt steckte, war er besessen davon – er schlief nicht und grübelte ständig, schrieb, hörte sich die Musik an, verwarf Ideen. Die »Schreibtischarbeit« des Theaters, also die Dramaturgie und den ganzen Prozess im Vorfeld der choreografischen Inszenierung, betrieb er sehr gewissenhaft, maß ihr hohe Bedeutung zu und war damit in der Regel schon weit fortgeschritten, wenn er mit der Bühnenarbeit begann.

Schule machen: Arbeit, Disziplin, Aufopferung

Mario war Spezialist darin, das ganze Ensemble in Bewegung zu versetzen, mit der Gruppe auf der Bühne Dinge zu erzählen, eher als mit Solist_innen. Immer bestand er darauf, dass wir den Bühnenraum nutzen, dass wir ihn besetzen sollten, dass wir »groß tanzten«.

Ihn faszinierte die technische Dimension des Tanzens, und stets suchte er nach Details, um ihr etwas Flamenco-Spezifisches3 zu verleihen. Große Aufmerksamkeit widmete er zum Beispiel den Händen und ihrer Ausdruckskraft sowie dem Einsatz des Blicks in der Choreografie. Und ein unverzichtbarer Bestandteil der Aufführung war für ihn der Gesang. Er legte großen Wert auf technische Perfektion und auf ein diszipliniertes Arbeiten – während der Inszenierungsphase erhielt die ganze Truppe Ballettunterricht. Im Sevilla der 80er Jahre galt das als ein Spleen, doch er hielt es für absolut nötig.

Ich sehe ihn weder als Choreografen des Stils noch der Schrittfolgen. Was er seinen heute berühmten Schüler_innen wie Rafaela Carrasco oder Israel Galván vermittelte, war eine neue Bühnendisziplin und ein anderes Verständnis vom Raum und vom Einsatz der Musik, ob es nun Flamenco oder andere Klänge waren.

Der Dualismus der Roma-Professionalität

Mario Maya suchte die Intensität des Ausdrucks eher in kleinen Details – in kalkulierten und abgemessenen Pinselstrichen –, als in großen Ausbrüchen von Kraft und Schnelligkeit.

Charakteristisch für seinen Stil sind Beherrschtheit und Detailfreude, Eleganz und Technik – und die Konzentration auf die Musik und die Musiker_innen, besonders auf den Gesang. Außerdem der Vorrang des Gefühlsausdrucks gegenüber der zur Schau gestellten Virtuosität – mittels einer zarten und subtilen Empfindungskraft.

Hervorheben möchte ich, dass er in seiner Arbeit immer die »gitanidad« wahren wollte – also sein Konzept und Gefühl dessen, was es heißt, Rom_nja zu sein, während er zugleich seinen Stil auf scheinbar nicht originär Roma-Elementen des Flamencotanzes begründete (Musikalität statt Rhythmik, Beherrschtheit statt Gefühlsausbrüchen, technische Kühle statt glühender Leidenschaft, Sensibilität statt Instinkt etc.).

Ich lernte von Mario Maya, dass die Bühne und das Publikum den höchsten Respekt verdienen. Dass der Flamenco die gleiche Würde und Qualität hat wie das Ballett oder jegliche andere Kunstform. Und dass Tänzer_innen Profis sind, die mit Leib und Seele in ihrer Arbeit aufgehen – mit einer Hingabe, die weit über den Erfolg und die Anerkennung hinausgeht, mit der sie belohnt werden.

Auch lernte ich, dass hinter jeder Bewegung ein kreativer und intellektueller Prozess steht, dass nichts einfach so passiert oder, wie er immer sagte, »es wird einem nichts geschenkt«. Dass die Nummern nicht zu lang sein und das Publikum nicht ermüden sollten. Die Zeit im Blick zu behalten war ihm sehr wichtig.

Vor allem aber war ich Zeugin seiner Widersprüche – wie Mario Maya seine Gitano-Identität im Alltag und mit seiner Familie ganz selbstverständlich lebte, wie diese Identität aber vor dem Publikum verteidigt werden musste. Die empfundene Notwendigkeit, dass der Flamenco seine Grundformen überschreiten müsse, um eine wirklich große Bandbreite an Konzepten ausdrücken zu können, erwuchs bei ihm – wie auch bei vielen anderen Künstler_innen der Zeit – aus einer bestimmten intellektuellen Prägung und einer soziopolitischen Protesthaltung, die mit seiner Flamencoausbildung einhergingen.

Der Tanz war für ihn nicht zuletzt das Mittel, um einer Kunst, einem Berufsstand und einer Ethnie, die als minderwertig und gesellschaftlich ganz unten stehend betrachtet wurde, die verdiente Würde zurückzugeben.

Wenige Tänzer_innen konnten oder wollten dies damals verstehen. Stattdessen münzten sie es in einen Vorwurf gegen Mario Maya um: Wer Bücher las, klassische Musik hörte und besonders fleißig war, der konnte doch kein Bailaor Gitano sein ...

Ich habe selbst erlebt, wie andere Roma-Künstler_innen meinen Vater auf diese Weise diskriminierten, und es erfüllt mich mit Stolz, sagen zu können, dass dergleichen heute nicht mehr vorkommt.

Wir Roma-Tänzer_innen haben inzwischen gelernt, uns von vielen künstlerischen, gesellschaftlichen und kulturellen Einflüssen zu nähren, »in der Welt zu sein« und nicht mehr zu befürchten, dass wir unsere Identität verlieren, wenn wir unseren Verstand und unser Herz öffnen.

Mario Maya hat ein kreatives Vermächtnis voller Engagement, Vorstellungskraft und Mut hinterlassen, in der konsequenten Auseinandersetzung mit seiner Zeit; und er hat damit eine Schule großartiger Interpret_innen und Choreograf_innen begründet.

Er blieb bis zum Schluss ein Rebell – und dies ist das Erbteil, das ich am meisten schätze (aus Thailand wurden wir beinahe ausgewiesen, weil wir uns weigerten, den damaligen König zu grüßen). Aber verstehen lässt sich das Rebellische, Revolutionäre, über seine Zeit Hinausweisende an ihm nur aus seinem Gitano-Sein: Gitano-Künstler und Gitano-Tänzer.

Schon seit er als Kind in einer Kellerbar für die Tourist_innen tanzte...

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