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Emilia Kledzik

Literarisches Schaffen der Rom_nja in Polen vor und nach der Zwangsansiedlung

Eine Zäsur in der Geschichte der polnischen Rom_nja bildet der Übergang von der fahrenden zur sesshaften Lebensweise als Ergebnis einer staatlichen Assimilierungsaktion, die 1952 begann und 1964 ihren Höhepunkt erreichte, als man den Rom_nja verbot, in ihren Planwagen zu leben. Diese Veränderung spiegelte sich in ihrem künstlerischen Schaffen wider, dessen Geschichte in diesem Zusammenhang in zwei Abschnitte unterteilt werden kann.

Der erste umfasst das anonyme, mündliche Schaffen, bekannt durch ethnografische Überlieferung vom Beginn des 19. bis zur Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der zweite Abschnitt betrifft das Schaffen namentlich bekannter Autor_innen ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Deren Vorreiterin war »Papusza« Bronisława Wajs.

Jerzy Ficowski | Papusza (Bronisława Wajs) | Fotografie | Polen | lit_00133 Rights held by: Jerzy Ficowski | Licensed by: Anna Ficowska-Teodorowicz | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Anna Ficowska-Teodorowicz – Private Archive

Die ersten polnischen romistischen Untersuchungen, die vor allem sprachwissenschaftlichen Aspekten gewidmet waren, erbrachten nur karge Erkenntnisse über das Schaffen von Rom_nja. In seiner Abhandlung »O Cyganach. Wiadomość historyczna, czytana na posiedzeniu publicznem Cesarskiego Uniwersytetu Wileńskiego« (wörtl. ›Über die Zigeuner. Historische Nachricht, gelesen auf einer öffentlichen Sitzung der Kaiserlichen Universität Vilnius‹, 1824) weist Ignacy Daniłowicz auf das Geheimnisvolle hin, mit dem das »Zigeunervolk« seine Sprache umgebe, und im Einklang mit dem von Fehlinformation und Klischees geprägten Zeitgeist stellte er fest, dass aufgrund der von Ethnografen festgestellten Abstammung der Rom_nja von einer »niederen Hindu-Kaste« sie keine Neigung zu »edlen Künsten« besäßen.

Teodor Narbutt schreibt in seiner Abhandlung »Rys historyczny ludu cygańskiego« (›Historischer Abriss des Zigeunervolkes‹) von 1830 über das »Naturtalent« der Roma-Poet_innen, »ohne jegliche Übung« Lieder komponieren und Epen improvisieren zu können. Er unterstreicht die Liedhaftigkeit der Poesie und schätzt die Mnemotechnik.

Der Ethnograf Izydor Kopernicki hat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 30 Lieder der sesshaften polnischen Bergitska Roma gesammelt und notiert, die 1925 und 1930 in einer zweisprachigen Ausgabe Romanes-französischen erschienen.

Die Untersuchungen zum anonymen Nachlass von Rom_nja in Polen setzte Jerzy Ficowski (1924–2006), Dichter, Folklorist und Übersetzer der Werke von Bronisława Wajs (»Papusza«), fort.

Ficowski gab zwei für die polnische Romistik grundlegende Abhandlungen heraus, »Cyganie polscy« (›Polnische Zigeuner‹, 1953) sowie »Cyganie na polskich drogach« (›Zigeuner auf polnischen Wegen‹, 1965), in denen er einige Werke von Bergitska Roma-Dichter_innen anführt. In ihrer über 100 Jahre andauernden Sesshaftigkeit vermutet er den Grund für den Verlust der Sitten und Bräuche, darunter der Liedimprovisation. Das Gleiche prophezeit er auch einer anderen Roma-Gruppe, den zur Sesshaftigkeit gezwungenen Polska Roma. Ficowski unterstreicht den ahistorischen Charakter des Roma-Liedes mit Ausnahme des Liedes über die Vernichtung der Rom_nja während des Zweiten Weltkrieges.

Bronisława Wajs vulgo Papusza war die erste Roma-Dichterin in Polen, deren Gedichte veröffentlicht wurden. Trotz der Verachtung, die ihr von Rom_nja nach der Veröffentlichung des ersten, 1956 veröffentlichten zweisprachigen Gedichtbandes »Pieśni Papuszy / Papušakre gila« (›Papuszas Lieder‹) in der polnischen Übertragung von Jerzy Ficowski entgegenschlug, folgten andere Roma-Dichter_innen ihrem Beispiel. Papuszas Gedichte, die zum Paradigma der polnischen Roma-Poesie wurden, zeichnen sich durch Liedhaftigkeit, formale Einfachheit und Knappheit aus. In ihnen thematisiert Papusza traditionelle Bräuche, das Leben in den Planwagen sowie die Identität von Rom_nja in Polen (Textbeispiele »Ratfałé jaspá / Krwawe łzy« (›Blutige Tränen‹), »Gilí romańi / Pieśń cygańska« (›Zigeunerlied‹), »Phúv mirí / Tiemio moja« (›Meine Erde‹).

Bronisława Wajs (geborene Zielińska) – bekannt unter dem Pseudonym »Papusza« (›Puppe‹) – wurde am 17. August 1908 in Sitaniec (Polen) geboren. …

Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand in Polen eine Reihe von Roma-Folkloregruppen. In der Popmusik wurde »Zigeunerfolklore« zur Mode. Jerzy Ficowski und Agnieszka Osiecka waren Autor_innen von Liedtexten, die auf spezifischen, Rom_nja zugeschriebenen Motiven (sogenannte »Zigeunermotive«) basierten und von den größten Bühnenstars aufgeführt wurden: von Maryla Rodowicz, Edyta Geppert, Anna German sowie von den Bands »Trubadurzy« und »Czerwone Gitary«. Die Popularität des Lied- und Tanzensembles »Roma« sowie des Musiktheaters »Terno« motivierte andere Roma-Künstler_innen zur Veröffentlichung ihrer Werke.

Zu den bekanntesten zeitgenössischen polnischen Roma-Dichter_innen gehören neben Papusza: Teresa Mirga, Izolda Kwiek, Edward Dębicki, Adam Andrasz, Karol Gierliński, Stanisław Stankiewicz, Jan Mirga, Dariusz Mirga und Don Wasyl (eigentlich Kazimierz Doliński). Eine wichtige Rolle bei der Veröffentlichung ihres Schaffens spielt die erste polnische Roma-Zeitschrift »Rom p-o Drom« sowie die poetische Serie »Roma-Bibliothek«, redigiert von dem polnischen Tsiganologen Adam Bartosz. Die wichtigsten Themen der Roma-Lyrik, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus veröffentlicht wurde, sind – neben der Gestaltung von Subjektivität – das Martyrium der Rom_nja während des Zweiten Weltkrieges sowie nostalgische Erinnerungen an das Leben im tabor (gemeinsam reisender und lagernder Wagenverband).

Interessant ist, dass diese Themen auch im Schaffen jener Poet_innen auftauchen, deren ethnische Gruppen schon seit Generationen ein sesshaftes Leben führen – so in den Gedichten von Teresa Mirga, Leiterin des Ensembles »Kałe Bała«, welches ethnische Musik aufführt, die auf dem Multikulturalismus in der Region Zips basiert, als auch bei Izolda Kwiek, Leiterin der Ensembles »Tabor«: und »Mały Tabor«. Beide Poetinnen verfassen vor allem Liebesgedichte sowie Gedichte religiösen Inhalts. Integraler Bestandteil ihrer Lyrik sind Dialoge mit der Natur sowie das Gefühl der Ablehnung durch die »Gadsche« (Nicht-Rom_nja).

Der Übergang von der fahrenden zur sesshaften Lebensweise brachte die Notwendigkeit der Anpassung an das Leben in der Stadt mit sich. Über die daraus resultierenden Schwierigkeiten handeln die Gedichte von Adam Andrasz, darunter »Miejska noc« (›Städtische Nacht‹, 1992) mit den Anfangsversen:

»Brak Ci szumu wiatru /
Śpiewu lasu /
Czy turkotu kół taboru /
Który meandrami /
Kołysał Twoje dzieciństwo«

›Dir fehlt das Rauschen des Windes /
der Gesang des Waldes /
oder das Räderklappern der Planwagen /
welche in Mäandern /
Deine Kindheit wiegten‹

Andrasz 1992, S. 11.

Ähnliches schreibt Don Wasyl (geb. 1950; auch bekannt unter den Namen Wasyl Szmidt und Don Vasyl Szmidt), Gründer eines bekannten Roma-Ensembles sowie Initiator und Organisator des »Międzynarodowego Festiwalu Piosenki i Kultury Romów« (›Internationalen Festivals des Romaliedes und der Romakultur‹). In seinem Gedicht »Pasażerowie niebieskiego taboru« (›Passagiere des blauen tabors‹), welches im gleichnamigen Band erschien, heißt es:

»my już nie wędrujemy /
nasze domy nie mają kół [...] /
dawno już też ... /
zapomnieliśmy o was /
– pasażerowie niebieskiego taboru«

›Wir wandern nicht mehr /
unsere Häuser haben keine Räder [...] /
lange schon ... /
seid ihr in Vergessenheit geraten /
− ihr Passagiere des blauen tabors

Don Wasyl 1998, S. 21.

Der Roma-Dichter Jan Mirga konstruiert in seinem Gedichtband »Kto nas ocali« (›Wer rettet uns‹, 2007) an Haiku erinnernde Impressionen der Natur. Obwohl Sprecherinstanzen in den Gedichten ebenfalls ihre Ruhe in der fahrenden Lebensweise finden, stoßen wir in Mirgas Texten nicht auf konventionelle »Erinnerungen« an das Leben im tabor, sondern auf die der historischen Wahrheit näherliegenden Porträts der getrennten Siedlungen von Rom_nja und Gadsche. Ein wichtiger Bezugspunkt im Schaffen aller genannten Künstler_innen bleibt die Dichterlegende Bronisława Wajs (Papusza).

Bei vielen Dichter_innen wird die Anknüpfung an die Volkskultur sichtbar, so zum Beispiel in den Märchen von Jan Mirga und in Karol Gierlińskis Gedichten.

Eine wichtige zeitgenössische literarische Strömung beschäftigt sich mit den Erinnerungen an Kriegserfahrungen und an das Ende der Planwagenzeit: »Ptak umarłych« (›Totenvogel‹) I und II von Edward Dębicki sowie »Kto nas ocali« von Jan Mirga. In späteren Neuauflagen erscheinen Roma-Märchen mündlichen Ursprungs.

Edward Dębicki | Ptak umarłych | Books | Warschau | 2004 | lit_00128 Rights held by: Edward Dębicki (text) — Katarzyna Trzeszczkowska (graphic design) | Licensed by: Edward Dębicki (text) — Katarzyna Trzeszczkowska (graphic design) | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided and published by: Bellona – Publishing House (Warsaw/Poland)

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