Klassische Musik

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Petra Gelbart

Strawinsky und Roma-Instrumentalisten

»Ich sah zu ihm hoch und dachte: ›Du wirst es nicht schaffen, das aufzuschreiben, was ich spiele!‹«

Aladár Rácz

Die Quelle der Folklore als ein unterscheidendes Merkmal

Igor Strawinsky (1882–1971) war ein in Russland geborener Avantgarde-Komponist, der in Paris seine größte Berühmtheit erlangte. Er ist für seine unterschiedlichen Kompositionsstile bekannt, darunter eine Reihe von Stücken mit musikalischem Bezug zu Russland und ausgewählten ethnischen Gruppen in Osteuropa.

Das Markenzeichen der »Folklore« – oder folkloristischen Elemente –, das Strawinsky gebrauchte, als er noch gern die Rolle des Fremden auf dem internationalen Kunstmusikmarkt einnahm, war in mindestens zweierlei Hinsicht ein zusammengesetztes Konstrukt.

Die Werke, die ihn berühmt machten, wie »Der Feuervogel« oder »Petruschka« (hier werden Rom_nja in musikalisch anschaulicher Weise kurz angesprochen), bauten weitgehend auf Texten, Liedern und Motiven auf, die der Komponist aus verschiedenen Quellen gesammelt hatte. Diese volkstümlichen Elemente waren in gewisser Hinsicht austauschbar – gleichzustellen mit unzähligen anderen potenziellen Möglichkeiten zur Exotisierung seines Heimatlands.

In größeren, stilistischen Maßstäben gedacht, nahm sich Strawinsky aus der Folklore das, was er brauchte, um seine Ästhetik zu festigen – darunter entmenschlichende Rituale, unkonventionelle Textkonfigurationen und andere Formen der Distanzierung von der etablierten klassischen Tradition.

Aladár Rácz

Ein Beispiel für Strawinskys folkloristisch beeinflusstes Schaffen entstand aus seiner Begegnung mit dem legendären Roma-Zymbalspieler Aladár Rácz (1886–1958). Strawinsky lernte Rácz in Genf kennen, wo dieser mit seinem Ensemble auftrat. Rácz beschrieb den Abend später so:

»Ich spielte einen serbischen Kolo, als Ansermets Begleiter zum Zymbal vorstürmte. Er trug ein Monokel, eine rote Krawatte, eine grüne Weste und eine enge Jacke. Es war Igor Strawinsky. Er machte sich an seinem Ärmel zu schaffen, um die Manschette aufzuschlagen, auf der er die Musik notieren wollte. Als junger Mann, der vor Selbstvertrauen strotzte, sah ich zu ihm hoch und dachte: 'Du wirst es nicht schaffen, das aufzuschreiben, was ich spiele!' Und tatsächlich hörte er bald auf, mitzuschreiben.«

Aladár Rácz

Bald darauf erwarb Strawinsky von einem ungarischen Roma-Händler selbst ein Zymbal und ließ sich regelmäßig von Rácz beraten, wenn er beim Komponieren mit dem Instrument arbeitete. Er verwendete Figuren, die an Zymbaltechniken erinnerten, und ging sogar so weit, das Instrument selbst in ein Stück namens »Ragtime pour onze instruments« (»Ragtime für elf Instrumente«) einzubauen. Auf einem Foto, das Strawinsky für den virtuosen Musiker signierte, steht geschrieben:

»A Monsieur Aladár Rácz en souvenir des bons moments et de la bonne musique qu’il m’a fait entendre a Geneve. ANNO BELLI 1915 / En toute reconnaissance, Igor Strawinsky« (»Für Herrn Aladár Rácz, als Erinnerung an die guten Zeiten und die gute Musik, die er mich in Genf hören ließ. Anno belli [Kriegsjahr] 1915 / Herzlichst, Igor Strawinsky«).

Tamas Szenti | Aladar Racz Plaque | Photographie | mus_00147 Rights held by: Tamás Szenti | Licensed by: Tamás Szenti | Licensed under: CC-BY-SA 3.0 Unported | Provided by: Wikimedia Commons

Roma-Geiger

Auch die Geigenspieltechniken der Roma dienten Strawinsky als Inspirationsquelle. So adaptierte er Roma-Interpretationstechniken von Verbunkos-Tänzen und anderen Melodien für den Violinpart von »Histoire du Soldat« (»Die Geschichte vom Soldaten«), einem bedeutenden Musiktheaterwerk, das 1918 uraufgeführt wurde.

Im Kontext westlicher Kunstmusik klingen viele Aspekte dieser Geigenmusik eher ungewöhnlich: die derb klingenden Doppelgriffe, die markanten Bewegungen über leere Saiten oder das schnell zwischen benachbarten Saiten wechselnde Fingerspiel, das eine fragmentierte Melodie mit besonderem Augenmerk auf die Klangfarbe entstehen lässt.

Für den an Bekanntheit gewinnenden Strawinsky spielte Folklore nicht nur eine thematische Rolle, sondern war auch Teil seiner Gesamtemulation von allem »Nicht-Deutschen«, das ihm übermittelt worden war. Strawinsky war wie die meisten Komponist_innen kein ethnologischer Purist. Sein Verhältnis zur Folklore und Popularmusik war vielmehr ein grundlegend kapitalistisches, das auf dem Marktwert bestimmter Quellen in Bezug auf den Marktwert seiner eigenen Invention beruhte.

Obwohl Strawinsky einige Rom_nja persönlich kennengelernt hatte, waren seine musikalischen Verweise auf Roma-Stile tendenziell von den Klängen selbst motiviert – und wohl weniger von der unverhohlenen Exotisierung der »Zigeuner-Kultur«, an der sich viele andere Komponisten beteiligten.

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