Klassische Musik

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Matthew Gelbart

Brahms und die Sinti und Roma

Es gibt viele Geschichten darüber, wie der Komponist Stunden damit verbrachte, fasziniert virtuosen Roma-Kapellen zu lauschen.

Roma-Kapellen

Während seines gesamten Erwachsenenlebens hatte Johannes Brahms (1833–1897) eine starke Affinität zum »ungarischen Zigeunerstil«. Es ist belegt, dass er schon relativ früh Roma-Kapellen in seiner Heimatstadt Hamburg gehört hatte.

Im Alter von nicht einmal zwanzig Jahren wurde er zum Klavierbegleiter des ungarischen Geigenvirtuosen Ede Reményi, der nach der gescheiterten Revolution von 1848 von Ungarn nach Hamburg geflohen war, um politischer Verfolgung zu entgehen. In den frühen 1850er Jahren unternahm Brahms mit Reményi eine Konzertreise, auf der sie Arrangements verschiedener ungarischer Roma-Lieder spielten.

Später zog Brahms nach Wien, wo er mit vielen Ungar_innen Freundschaft schloss, was ihn auf mehrere Konzertreisen nach Ungarn führte. Es gibt viele Geschichten darüber, wie der Komponist Stunden damit verbrachte, fasziniert virtuosen Roma-Kapellen zu lauschen – sowohl im Prater als auch bei seinen Besuchen in Budapest.

Der style hongrois (»ungarischer Stil«)

Es scheint, als hätte er – mehr als vielleicht jeder andere berühmte Komponist von »Kunstmusik« – »Zigeunergeigenspieler« nicht nur als exotische Stereotype, sondern als fähige Musiker begriffen, die einen Stil geprägt hatten, der mit den von ihm überaus geschätzten deutschen Idiomen möglicherweise verträglich sein könnte.

All diese Kontakte hinterließen deutliche Spuren in seiner Musik. Der Einfluss durchläuft die ganze Bandbreite von unbestimmt »ungarischen« Passagen in einer Vielzahl seiner Stücke bis hin zur Veröffentlichung der berühmten »Ungarischen Tänze« für Klavier zu vier Händen (in je zwei Heften 1869 und 1880).

Brahms ist vielleicht deshalb eine seltene Ausnahme (Schubert könnte jedoch in gewisser Hinsicht einen Präzedenzfall geschaffen haben), da er insbesondere in seinem späteren Leben den ungarischen Stil nicht nur in die langsamen, stereotyp im tempo rubato Fahrt aufnehmenden Stücke und in die »feurigen«, schnellen Stücke eingearbeitet hat, sondern auch in seine »ernsthaftesten« langsamen Sätze.

Es scheint, als hätte er – mehr als vielleicht jede_r andere berühmte Komponist_in von »Kunstmusik« – »Zigeunergeigenspieler« nicht nur als exotische Stereotype, sondern als fähige Musiker begriffen, die einen Stil geprägt hatten, der mit den von ihm überaus geschätzten deutschen Idiomen möglicherweise verträglich sein könnte.

»Zigeuner-Rondo«

Betrachten wir einige der berühmtesten Beispiele von Brahms’ »Zigeunerstil«. Zu den ersten, die veröffentlicht werden sollten, zählt das »Zigeuner-Rondo«-Finale (»Rondo alla Zingarese«) aus seinem ersten Klavierquartett, op. 25.

Mit seinen akzentuierten, perkussiven Rhythmen, einer Tonart in Moll und den häufigen Vorschlägen ist der hier vorliegende Stil geradezu archetypisch. Zudem blickte die Tradition des schnellen Finalsatzes im leichten »Zigeunerstil« bereits auf ruhmreiche Vorgänger in kammermusikalischen Werken für Klavier und Streicher_innen zurück: Gewiss hat Brahms hier zu einem bestimmten Grad auch Haydns berühmtem »Zigeuner-Rondo« aus seinem Klaviertrio in G-Dur, Hob. XV:25, seine Ehre erwiesen.

Brahms nannte die »Ungarischen Tänze« »echte Pußta- und Zigeunerkinder, nicht von mir gezeugt, sondern nur mit Milch und Brot aufgezogen«.

Die »Ungarischen Tänze«

Doch es sind die »Ungarischen Tänze«, in denen Brahms den Stil am konsequentesten zum Einsatz brachte. Brahms hatte die Angewohnheit, Werken keine Opuszahlen zuzuordnen, wenn er sich eher als Arrangeur denn als Komponist erachtete, und so verhielt es sich auch im Falle dieser Stücke. Er hat vermutlich drei der einundzwanzig Tänze selbst komponiert, die anderen lassen sich auf verschiedene bereits vorhandene Melodien zurückführen, über die Brahms und Remédy bereits auf ihrer Konzertreise improvisiert hatten.

Wie in den Tonsätzen seiner »Deutschen Volkslieder« legte Brahms bei seinen Arrangements große Sorgfalt und Kunstfertigkeit an den Tag und brachte seine bevorzugten Kompositions- und Kontrapunkttechniken zur Geltung. In einem Brief an seinen Verleger Simrock nannte er die kleinen Stücke »echte Pußta- und Zigeunerkinder. Also nicht von mir gezeugt, sondern nur mit Milch und Brot aufgezogen« (zitiert in Avins, S. 363).

Die »Ungarischen Tänze« gehörten bald zu Brahms’ berühmtesten und beliebtesten Werken. Später bearbeitete er sie auch für Klavier solo. Mal langsam, mal schnell, verbinden sie typische Stile, die ihre Wurzeln im Verbunkos und im Csárdás haben. Auch enthalten sie Passagen, die das Zymbal imitieren, wie zum Beispiel das Tremolo zu Beginn des Tanzes Nr. 4.

»Zigeunerlieder« und das Klarinettenquintett

In den 1880er Jahren widmete sich Brahms erneut dem Arrangement, diesmal von Gesangsstücken. Seine »Zigeunerlieder« opp. 103 und 112 sind Vertonungen deutscher Übersetzungen von Liedern, die Zoltán Nagy auf Ungarisch herausgegeben hatte. Es handelt sich jedoch um deutlich freiere Bearbeitungen, in denen er sich viel größeren Spielraum mit den Melodien aus Nagys Sammlung zugestand, die ihm als Inspirationsquelle dienten. (Und so versah er diese Stücke auch mit Opuszahlen.)

Die Texte der »Zigeunerlieder« verbinden Liebeslyrik aus der Ich-Perspektive mit Anrufungen Außenstehender (»He, Zigeuner, greife in die Saiten ein«) und beinhalten sogar eine Beschreibung eines vermutlich »rassenübergreifenden« Tanzes (»Brauner Bursche führt zum Tanze sein blauäugig schönes Kind«).

Musikalisch betrachtet binden die »Zigeunerlieder« mit Unterbrechungen exotische Elemente in Brahms’ eher deutschen Stil ein, was kein Einzelfall ist: Gegen Ende seines Lebens schlüpfte Brahms immer öfter in den ungarischen Stil und wieder hinaus, wobei er andere Einflüsse gekonnt integrierte.

Darüber hinaus griff er auch für langsame Sätze in Gattungen von hohem Ansehen verstärkt zu Elementen des ungarischen Stils. (Beispiele sind der langsame Satz der Violinsonate op. 100 und die Adagios des Streichquartetts op. 11 sowie des Klarinettenquintetts op. 115, dessen Mittelteil in Moll rhapsodische Läufe der Klarinette mit betonten übermäßigen Sekunden aufweist.

Ein Zeichen der Einflüsse an dieser Stelle besteht darin, dass die leisen Tremoli in den anderen Stimmen sowohl in der Kammermusik für Streicher_innen gängig waren als auch erneut an das Zymbal erinnern.

Herausnehmen der Roma aus der Gleichung?

Wie die Musikwissenschaftlerin Margaret Notley skizziert hat, wurden in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts langsame Sätze von Nationalist_innen als die »gehaltvollste« und »tiefgründigste« und daher »deutscheste« Musik angesehen. Dieser Status könnte auch abfärben. Ungarische Kritiker_innen und Historiker_innen bemerkten schnell den ungarischen Einfluss auf die am höchsten geschätzte Musik großer deutscher Komponist_innen.

Es war leider vorhersehbar, dass spätere Historiker_innen das Verdienst von Roma-Musiker_innen schmälern würden, wann immer sie den Fantasiebildern überemotionaler, gedankenloser Naturkinder nicht entsprechen sollten oder man ihnen die kommerzielle Verhunzung des wahren Volkslieds vorwerfen würde.

Wie jedoch vorauszusehen war, insbesondere nach Bartóks Versuchen im frühen 20. Jahrhundert (siehe Bartók, Sárosi, and the Question of Origins in Romani Musicianship), Roma-Musik und ihre Einflüsse von »wahrer ungarischer Volksmusik« zu trennen, hörten sie plötzlich auf, den Stil »Zigeunerstil« zu nennen.

Lajos Koch behauptete beispielsweise, dass sich Brahms in diesen späten langsamen Sätzen vom Einfluss der »Zigeunermusik« entfernt habe und dass er sich auf »die wahre, unverfälschte Eigenart der ungarischen Volksmusik« berufe (Ebert, S. 155).

Es liegt auf der Hand, dass Brahms – von der im 19. Jahrhundert geläufigen Annahme ausgehend, dass ungarische Volksmusik hauptsächlich von Rom_nja geschaffen und kultiviert wurde – eine solche Unterscheidung weder treffen konnte noch wollte (vgl. Notley, S. 195). Seine Vorstellung von ungarischer Musik war »Zigeunermusik«.

In der Tat tritt die Absurdität von Kochs Behauptungen noch deutlicher zutage, wenn er ähnliche Aussagen über die »Zigeunerlieder« selbst trifft, als ob Brahms diese von einer »Zigeunerhaftigkeit« hätte loslösen wollen!

In diesen Stücken, so Koch, lässt Brahms »[d]en zigeunerischen Bombast, die übertriebenen, wenig sinnvollen virtuosen Läufe und die übermäßigen Rubati [frei gestaltete Verzögerungen und Beschleunigungen] – das schlimmste Attentat auf das ungarische Volkslied« beiseite und gibt uns stattdessen das »ungarische Element in reinster und edelster Form« (Ebert, S. 163).

Gegen Ende seines Lebens hat Brahms den ungarischen Roma-Stil nahtlos in seinen eigenen eingebunden, in die deutschesten aller deutschen Sätze.

Obwohl es leider vorhersehbar war, dass spätere Historiker_innen das Verdienst von Roma-Musiker_innen schmälern würden, wann immer sie den Fantasiebildern überemotionaler, gedankenloser Naturkinder nicht entsprechen sollten oder man ihnen die kommerzielle Verhunzung des wahren Volkslieds vorwerfen würde, geht von diesen Betrachtungen zu Brahms’ Spätstil doch eine Faszination aus.

Es ist sicher, dass Brahms, einer der kunstfertigsten Komponist_innen, die es beim Gegeneinandersetzen zweier Melodien sowie bei der Tempowahl und zeitlichen Entfaltung von Musik jemals gab, seinen eigenen, persönlichen Stil an ungarische Roma-Musik herantragen würde.

Doch angesichts seines eigenen deutschen Kulturnationalismus – seines Interesses, vornehmlich darauf aufzubauen, was er als Jahrhunderte deutscher Stile, volkstümlicher Wurzeln und musikalischer Bildung erachtete – ist es umso erstaunlicher, dass er gegen Ende seines Lebens den ungarischen Roma-Stil so nahtlos in seinen eigenen eingebunden hat, in die deutschesten aller deutschen Sätze. Er scheint in vielen Fällen den Stil nicht länger als »exotisch« erachtet zu haben.

In Brahms’ Spätstil, oft als bittersüß wehmütig und »herbstlich« wahrgenommen, scheint es, als sehe er Roma-Musik als Teil seiner Vergangenheit, Teil seines Reifeprozesses und seiner Tradition als Musiker, Teil seiner musikalischen Palette, Teil seiner selbst.

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