Klassische Musik

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Petra Gelbart

Bartók, Sárosi und die Frage nach den Ursprüngen

Wenn sich eine Improvisation oder eine Neuordnung eines Stückes merklich anders anhört als die originale Version, so ist dies auch eine Art des Komponierens.

»Wessen« Stil ist es eigentlich?

Die Zuordnung von abgegrenzten Musikstilen zu bestimmten ethnischen Gruppen ist spätestens seit den Anfängen nationalistischer Bewegungen in Europa ein endlos diskutierbares Thema. Was ist zum Beispiel tschechische Musik? Wie eindeutig tschechisch klingt sie wirklich – abgesehen von der Sprache? Schrieb Bedřich Smetana tschechische Musik, auch wenn seine Formensprache, sein harmonischer Aufbau, seine Orchestrierung und die meisten anderen musikalischen Elemente fast ausschließlich auf andere Länder zurückgehen – auf eine Mischung ethnischer Gruppen, die teilweise tschechisch, jedoch stark germanisch geprägt war?

Ebenso schwer zu beantworten ist die Frage, wie man den Begriff des/der Komponist_in oder des Komponierens definiert. Volksliedern schrieb man lange Zeit implizit keine Komponist_innen zu, da viele ihrer Varianten das aggregierte Werk mehrerer Komponist_innen sind. Ein Beispiel, das diese Fragestellungen in sich vereint, ist die Jazzmusik – ob durch Sinti und Roma abgewandelt oder in einer ihrer ursprünglichen Formen.

Während es keine einstimmigen Aussagen über die Herkunft oder »Urheberschaft« des Jazz gibt, lassen sich folgende Aspekte seiner Entstehung dokumentieren:

  1. Jazz in seinen grundlegenden Formen hätte ohne die Melodien und Harmonien weißer Europäer_innen nicht entstehen können.
  2. Jazz würde ohne die rhythmischen Strukturen, die Ornamentierung und die Improvisationsgabe der Afroamerikaner_innen, die ihn entwickelt haben, nicht existieren.
  3. Wenn eine Improvisation oder ein Arrangement eines Stücks deutlich anders klingt als die Originalversion, ist dies auch eine Form des Komponierens.

Manche Autor_innen möchten jedoch eine klare Trennlinie zwischen Komposition und Interpretation ziehen, auch wenn dies in der Realität eine Frage des Ausmaßes ist. Roma-Musiker_innen verwenden häufig Stücke aus externen Quellen, ohne sie wesentlich zu verändern. Oft werden externe Kompositionen aber auch so stark abgewandelt – beispielsweise durch stilistische Adaption oder Improvisation –, dass das Publikum eindeutig von Roma-Musik sprechen würde. Und schließlich schaffen Roma-Komponist_innen neue Stücke in alten Stilrichtungen sowie Originalstücke in ihrem eigenen neuen Stil.

Bildunterschrift: Archivbild von Béla Bartók

Published: anonymously (1927) | Provided by: Wikimedia Commons

Bartók über Roma

Diese kreative Vielschichtigkeit wurde von Komponisten wie Béla Bartók oder Zoltán Kodály kaum wahrgenommen. Das ging so weit, dass sie mitunter dieselben Vorgänge mit zweierlei Maß zu bewerten schienen – abhängig davon, um welche ethnische Gruppe es sich handelte.

Bartóks gelassenerer kompositorischer Kommentar zu den Verbunkos und sein späterer, fortlaufend formulierter Essay zur Rassenreinheit scheinen ihn von der Anklage zu entlasten, rassistische Feindseligkeit zu schüren.

Katie Trumpener hat vieles über die Politik und Motivation hinter Bartóks widersprüchlichen Ansichten über verschiedene ethnische Gruppen und ästhetische Standards herausgefunden – darunter die Rolle des/der Komponist_in im zunehmend von Antisemitismus und Rassismus geprägten Klima der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Die Schriften des berühmten ungarischen Komponisten offenbaren zusammengenommen eine Reihe von eklatanten Widersprüchen. Beispielsweise gilt die Anleihe und Umgestaltung von Musikmaterial generell als innovativ, außer wenn dies durch Roma und Sinti geschieht. In diesem Fall wird von einer Verunstaltung oder dem Diebstahl lokaler Traditionen zu Profitzwecken gesprochen. Solche und andere ähnlich beladene Begriffe treten hier direkt an die Stelle, an der Bartók bei anderen Gruppen von kreativen Prozessen spricht.

Die folgenden Auszüge stammen aus einem Essay, das Bartók 1931 verfasste:

[Roma-Musik befriedige] »die Bedürfnisse jener, die über wenig künstlerisches Feingefühl verfügen, ... dazu bestimmt, unentwickelte Musikgeschmäcker zu erfreuen«. Dort heißt es außerdem: »Im Volkslied bilden Text und Musik eine untrennbare Einheit. Die Aufführungspraxis der ›Zigeuner‹ zerstört diese Einheit, da sie ohne Ausnahme die Gesangsstücke in reine Instrumentalstücke umwandelt. Dies allein genügt als Beweis für die mangelnde Authentizität in den Musikdarbietungen der ›Zigeuner‹, selbst im Bereich der volksnahen Kunstmusik.«

Es scheint jedoch, als sei sich Bartók mit der Zeit über die Bedrohung der ungarischen kulturellen Identität durch Roma-Musiker_innen nicht mehr so sicher gewesen. Ebenso unklar wurde seine Position zu der Frage, ob ihr Ausschluss aus der öffentlichen Aufmerksamkeit wirklich notwendig sei. Bartóks entspanntere kompositorische Stellungnahme zum Verbunkos-Stil (ob Bartók diesen als Schöpfung der Roma einordnete, ist unklar) und sein späteres, fortlaufend formuliertes Essay zur Rassenreinheit scheinen ihn vom Vorwurf, rassistische Anfeindungen zu schüren, zu entlasten. Dennoch hat der rassistische Hintergrund, Tonfall und Nachhall von Bartóks unschmeichelhafter Haltung Spuren in der europäischen Kulturlandschaft hinterlassen.

Kodálys Beurteilung

Zoltán Kodály, ein weiterer ungarischer Gelehrter und Komponist, vertrat die Ansicht, die Roma und Sinti hätten nichts Wesentliches zur ungarischen Musik hinzugefügt, was diese zur Roma-Musik machte – dies wird allerdings kaum diskutiert. In einer Arbeit, die 1960 auf Englisch veröffentlicht wurde, schrieb er, dass das, was als ungarische »Zigeunermusik« bezeichnet werde, in keiner Weise die Schöpfung von Roma sei, und er bezeichnete Roma-Komponist_innen als bestenfalls zweitklassige Nachahmer_innen.

Mit einer ganz anderen Logik beurteilte Kodály jedoch die Lage, wenn ungarische Komponist_innen Wesentliches zum Werk eines/einer Roma-Urheber_in hinzufügten – diese Form der Adaption betrachtete er als wahren schöpferischen Akt.

Er behauptete, »Zigeuner« verfälschten die Lieder, die sie spielten, mit erweiterten Intervallen. Kodály fand außerdem, die Lieder der »Zeltsiedlungen« und einiger dörflicher Roma würden sich klar von ungarischen Volksidiomen unterschieden und hätten nichts »mit echten Volksliedern« gemein.

Erweiterter zweiter Intervall. Roma Musiker_innen und viele andere könnten diese Töne (Noten) nacheinander als Teil einer Melodie singen oder spielen.

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Wann immer er über das Musikschaffen der Roma schrieb, verfiel Kodály in einen weitgehend missbilligenden und abwertenden Tonfall (beispielsweise: »Der Beitrag der ›Zigeuner‹ war nicht sehr deutlich«). Natürlich hatte Kodály ein Recht auf seine künstlerische Meinung, doch er dürfte sich wohl kaum für das Musikschaffen der Roma begeistert haben.

Mit einer ganz anderen Logik beurteilte Kodály jedoch die Lage, wenn ungarische Komponist_innen Wesentliches zum Werk eines/einer Roma-Urheber_in hinzufügten – diese Form der Adaption betrachtete er als wahren schöpferischen Akt.

In einer lobenden Äußerung zur Musik von János Bihari, einem berühmten Roma-Komponisten, deutete er an, dass ihm vermutlich ethnisch ungarische Musiker_innen auf die Sprünge geholfen hätten: »Der Großteil dieser Musik wirkt heute unmodern und veraltet. Nur die Kompositionen von Bihari strotzen noch vor Lebendigkeit. Doch da er die Notenschrift nicht beherrschte, wird man niemals genau feststellen können, was von ihm stammte und was von jenen hinzugefügt wurde, die seine Musik niederschrieben und kopierten.« (Kodály 1960)

Sárosis Agenda

Weder Bartók noch Kodály hatten also eine positive Sicht auf den Beitrag der Roma zur ungarischen Musikkultur. Katie Trumpener beleuchtet und problematisiert die Hagiographie, die sich rund um die Figur Bartóks entwickelt hat (Trumpener 2000).

In der musikologischen und volkskundlichen Forschung werden die von Autor_Innen vorgebrachten Untertöne gegen Roma und Sinti selten hinterfragt.

In der musikologischen und volkskundlichen Forschung werden die von Autor_Innen vorgebrachten Untertöne gegen Roma und Sinti selten hinterfragt. Diese Thematik hat bislang kaum ihren Weg in den wissenschaftlichen Mainstream gefunden – und noch viel weniger ins Bewusstsein der Allgemeinheit, selbst unter Kunstmusikkenner_innen. So werden Musikprofessor_innen, die sich über Richard Wagners Antisemitismus durchaus im Klaren sind, Bartók wohl kaum als einen Mann mit ablehnender Gesinnung gegenüber Sinti und Roma einstufen.

Solche Gesinnungen werden aber auch in der modernen Wissenschaft neu festgeschrieben. Bálint Sárosi ist ein viel zitierter Wissenschaftler auf dem Gebiet der ungarischen Roma-Musik. Sein größter Wurf ist eine umfassende Monografie mit dem Titel Zigeunermusik (1977 [1971]). Sárosis Buch basiert unter anderem auf der Annahme – die auch Bartók vertrat –, dass Interpretation und Komposition zwei klar getrennte Phänomene seien, wobei Roma nahezu ausschließlich zu ersterem tendierten.

Sárosi führt also den Gedanken fort, dass »Zigeunermusik« bis auf die Gesangsvariante der Vlach-Roma, die er kaum erwähnt, nicht wirklich Roma-Musik sei. In einem anderen Essay geht Sárosi so weit, den Roma jegliches kreative Wirken abzusprechen – oder zumindest jeglichen Status als musikalische Mitschöpfer_innen:

»Diese Musik – die Teil der ungarischen Kultur ist – wird von ›Zigeunern‹ gemeinhin als ihr eigenes musikalisches Idiom verstanden, so wie auch die meisten ›Zigeuner‹ in Ungarn das Ungarische als ihre Muttersprache sehen. Doch die Musik, die unter ›Zigeunern‹ gespielt wird und beliebt ist – die sogenannte ›Zigeunermusik‹ –, ist nur insofern ihre Musik, wie das von ihnen gesprochene Ungarisch ihre Sprache ist. [...] Der [Roma-]Instrumentalist adaptiert und führt gemeinsam mit den Einheimischen das weiter, was immer diese erfunden und entwickelt haben – in der von ihnen vorgegebenen Art und Weise.«

Sarosi 1997

Es steht außer Frage, dass Roma praktisch keine Rolle in der Herausbildung der ungarischen Sprache spielten, und es stimmt auch, dass sie die ungarische »Zigeunermusik« nicht zur Gänze erfunden haben. Dennoch lässt sich aus musikwissenschaftlicher Sicht wohl kaum behaupten, sie hätten keinen wesentlichen Einfluss auf die populären und klassischen Stile der ungarischen Musik gehabt, die ihnen häufig zugeschrieben wurden.

Ob in Restaurants, auf der Bühne oder in anderen Kontexten gespielt: Diese Musik war mehr als zwei Jahrhunderte lang untrennbar mit dem künstlerischen Schaffen der Roma und Sinti verbunden. Es mag wohl sein, dass Sinti und Roma viel vom harmonischen und formalen Aufbau dieser Musik aus der populären Praxis übernommen und bestimmte Grundmotive und Rhythmen kopiert haben, doch die melodische und rhythmische Weiterentwicklung der Musik wurde über Generationen von den improvisatorischen und kompositorischen Traditionen der Sinti und Roma geformt.

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