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Paola Toninato

Roma, ein »schriftloses Volk«?

Rom_nja, Sinti_ze und Traveller wurden lange für »schriftlos« gehalten. Diese Zuschreibung ist nicht nur missverständlich, sondern auch historisch falsch. Erste Roma-Gruppen gelangten im 15. Jahrhundert nach Europa. Ungefähr zur gleichen Zeit wurde der Buchdruck erfunden. Ethnologische Forschungen zeigen, dass Roma-Gruppen schon früh ein großes Verständnis für Schriftlichkeit beziehungsweise Literalität (also für den Umgang mit der Erzähl-, Lese-, Schreib- und Buchkultur) und deren sozio-politischen Auswirkungen besaßen. Allerdings verstanden sie unter Literalität mehr als das alphabetische Schrifttum, außerdem hat sich ihre Einstellung dazu im Laufe der Zeit geändert.

Traditionell gaben Roma-Gruppen ihre Erinnerungen in Form von Geschichten und Erzählungen eher mündlich als schriftlich an die nächsten Generationen weiter. Über Jahrhunderte hinweg entwickelten sie jenseits der oralen Kommunikation weitere Formen des alphabetischen und nicht-alphabetischen Schreibens, die wichtige sozio-ökonomische Funktionen zu erfüllen hatten (Piasere 1984, Williams 1997). Als Beispiel sei das alte Schriftsystem der »Zinken« nomadisierender Sinti und Roma Westeuropas genannt (Borrow 1841, Leland 1873). Die alphabetische Schrift benutzte unter Sinti und Roma nur eine kleine Elite. Sie kommunizierte damit mit Nicht-Rom_nja, vor allem zu ökonomischen und offiziellen Zwecken.

Die Entstehung einer »autochthonen«, schriftlich fixierten Roma-Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts bedeutete eine radikale Abkehr von den traditionellen Strategien eingeschränkter Literalität im oben genannten Sinne. Heute wenden sich immer mehr Rom_nja, Sinti_ze und Traveller – vor allem Intellektuelle und Aktivist_innen unter ihnen – dem alphabetischen Schriftsystem zu, das sie als Mittel zur Erlangung von Autonomie und Selbstbestimmung betrachten. Wie auch der Dichter Leksa Manush glauben sie, dass Stärke in der Literalität liegt, nicht im Verzicht darauf.

Diese veränderte Haltung von Sinti_ze, Rom_nja und Traveller gegenüber Schriftlichkeit und Schreiben beruht auf dem Wunsch, sich jenen neueren sozio-ökonomischen und politischen Veränderungen anzupassen, in denen Literalität eine zentrale Rolle spielt. Dies kann aber nicht als passive Reaktion auf sich ändernde äußere Umstände abgetan werden. Es ist auch das Ergebnis eines wachsenden ethnischen Selbstbewusstseins, das Literalität als ein geeignetes Instrument zur Bewahrung und Wiederbelebung des sprachlichen und kulturellen Erbes entdeckt hat. Kein Wunder, dass mit der Zunahme der Roma-Literatur auch eine gewisse politische Mobilisierung und ein stärkeres Engagement für die kulturelle und politische Anerkennung von Sinti_ze, Rom_nja und Traveller einher gehen.

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