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»… die Bestrafung der Mörder von 500.000 Sinti* and Roma*«

Matéo Maximoff | »… die Bestrafung der Mörder von 500.000 Sinti* and Roma*« | Selbstbeweis | Republik Frankreich | 26. Januar 1946 | voi_00045

Rights held by: Matéo Maximoff | Licensed by: Gypsy Lore Society | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Liverpool University Press Online | More at: Liverpool University Press

Germany and the Gypsies: From the Gypsy’s Point of View

by Matéo Maximoff

Fourteen thousand Gypsies were massacred in a single night at the camp of Ausschwitz [sic] in the gas-chamber or in the crematoria. This happened in 1943, but who knows how many were killed before and after this date?

Before the War there were settled in the Balkans from three to four million Gypsies, and of this number no one can trace how many have survived. For, like the Jews, our race has been swept out of Europe by a nation of ›over-Lords,‹ who wanted to enslave all the nations they could not eliminate.

[…]

We, the Gypsies, the freest people in the world, together with the people of the United Nations, we demand that the Gypsy martyrs at Ausschwitz [sic] be avenged, like those of France or Poland, not by the fury of barbarism but by the hand of Justice.

A tribunal of the United Nations rather than the pages of this Journal would be the appropriate place in which to supply evidence in support of our charge against the Nazis, though we could summon but few witnesses since so few Gypsies have returned from this inferno. But what we desire to find out is: What was the motive which induced these Nazis to carry out such wholesale massacres of our race? What could possibly have been their reason? Was it because we love freedom? Was this why they desired to remove us from the face of the earth? Or did they just kill Gypsies for sport?

Shall we Gypsies, one asks, ever have an Allied Court of Justice which will demand the punishment of these monsters, the assassins of 500,000 Tziganes? Since the United Nations desire to do justice to all the people who fought for the freedom of the world, why do they not consider justice for us also, and therefore institute an enquiry into the source of these monstrous Nazi orders to assassinate the whole Gypsy race?

[…]

Deutschland und die Sinti und Roma: Aus der Perspektive der Sinti und Roma

von Matéo Maximoff

In den Gaskammern oder in den Krematorien von Auschwitz wurden in nur einer einzigen Nacht vierzehntausend Sinti und Roma umgebracht. 1943 war das, und wer weiß, wieviele davor oder danach noch umgebracht wurden?

Vor dem Krieg lebten auf dem Balkan zwischen drei und vier Millionen Roma*. Niemand kann nachprüfen, wie viele von ihnen überlebt haben. Denn wie die Juden, so wurde auch unsere Rasse in Europa ausgelöscht von einer Nation von ›Übermenschen‹, die alle Nationen, die sie nicht ausrotten konnten, unterjochen wollten.

[…]

Wir, die Sinti und Roma, neben den Menschen der Vereinten Nationen das freieste Volk der Welt, fordern, dass die Sinti-und-Roma-Märtyrer_innen von Auschwitz gerächt werden, so wie diejenigen aus Frankreich oder Polen auch, aber nicht durch die Barbarei der Wut, sondern durch die Hand der Justiz.

Ein Tribunal der Vereinten Nationen wäre ein passenderer Ort als die Seiten dieses Journals, um jene Beweise anzuführen, die unserer Anklage gegen die Nationalsozialisten zugrundeliegen – selbst wenn es uns nur möglich wäre, einige wenige Zeug_innen einzuberufen, denn nur sehr wenige Sinti und Roma kehrten aus der Hölle zurück. Aber was wir herauszufinden begehren, ist: Was war das Motiv? Was brachte diese Nationalsozialisten dazu, unsere Rasse derart umfassend zu vernichten? Was könnte ihr Antrieb gewesen sein? War es unsere Freiheitsliebe? Wünschten sie sich deshalb, uns vom Angesicht der Erde zu tilgen? Oder war der Mord an Sinti und Roma für sie eine Art Sport?

Wird es für uns, so ließe sich fragen, jemals einen Alliierten Gerichtshof geben, der die Bestrafung dieser Monster, dieser Meuchelmörder von 500.000 Sinti und Roma, einfordert? Und wenn es tatsächlich das Anliegen der Vereinten Nationen ist, allen Menschen, die für die Freiheit der Welt kämpften, Gerechtigkeit zukommen zu lassen, warum erkennen sie dann nicht auch unseren Ruf nach Gerechtigkeit an und ordnen eine Untersuchung der Beweggründe hinter den monströsen Befehlen der Nationalsozialisten an, die gesamte Rasse der Sinti und Roma umzubringen?

[…]

I Germanija thaj e Sintura thaj Rroma: dikhindo andar e Sintengi thaj Rromengi perspektiva,
kotar o Matéo Maximoff
Dešuštar milje Rroma, numa ande jekh raći, mudarde si ande Auschwitzeske gasoske komore vaj ande krematorja. Kodo sas ko 1943 berš, thaj ko džanel sode manuša sas angleder mudarde, thaj pala kodo?

Angla o Maripe po Balkano trajinas maškar trin thaj štar milionura Rroma, khonik našti te džanel sode olendar ačhile dživde. Sostar, sar e Bibolde, amari rasa si mudardi ande Evropa katar jekh nacija e »uprune manušengi«, save so sa e nacije kamelas te teljarel, saven našti mudarelas. […]
Amen, e Sintura thaj e Rroma, e slobodijake majtromale manuša ande luma, kotar e manuša e Kethanutne Nacijengo, rodas, e manuša so mudarde e Sintoren thaj e Rromen ando Auschwitz, te thovenpe po marazi, krisome te oven, vi sar so nesave andar e Francija vaj Polska, ba na numa kotar e džungali xoli, no vi kotar e justicijako vast.

Jekh tribunalo e Kethanutne Nacijengo avelas majlačo vi katar e riga akale Journaloske, te dikholpe kodo so kerdilaspe, pe Nacionalsocijalistura amaro krisaripe te das, kana avelas amen šajipe nekobor cera mujalnen te akharas, kaj numa but cera Sintura thaj Roma irandepe palpale kotar e bengeski džung. Ba, so amen kamas te dodžanas si kodo: So sas i motivacija? So tradijas kadale Nacionalsocijalistoren pe kodo, amari rasa gija but te mudaren? Savi zor crdijas len pe kodo? Sas li kodo amaro kamipe vaš e slobodija? Mangle sebet kodo te khosen amen katar e luma? Vaj sas lenge o mudaripe pe Sintora thaj Rroma numa jekh sporti?

Šaj ka avel, šaj phučolpe, varekana jekh Kethanutno Krisi, savo ka rodel te krisarenpe kadala džungale, kadala bengale so mudarde 500,000 Sintoren thaj Rromen? Thaj te si e Kethanutne Nacijaki buti pal sa e manuša čačipe te resel, vaš e lumijaki slobodija zor te kerel, sostar na lel sama vi pe amaro krrlo vaš o čačipe, thaj te dikhlolpe so ačhilas pala kadala bengale Nacionalsocijalistikane komandi te murdarenpe sa e Sintengi thaj e Rromengi rasa?
[…]

Credits

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Lesung des Selbstzeugnisses von Matéo Maximoff
2.57 min
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Lesung des Selbstzeugnisses von Matéo Maximoff | Spoken word | Deutschland | 2018 | voi_00105
DE

Kontextualisierung

Gerechtigkeit vor einem Gericht der Alliierten

Dieser Artikel des französischen Schriftstellers Matéo Maximoff (1917–1999) erschien 1946 in der Zeitschrift der 1888 in Großbritannien gegründeten »Gypsy Lore Society«. In dem Doppelband Nr. 1–2 des gleichen Jahres waren bereits zwei andere Zeugnisse über den Völkermord an den Sinti und Roma erschienen: Eines hatte Frédéric Max, ein französischer Widerstandskämpfer, der Romanes sprach und nach Buchenwald deportiert worden war, verfasst. Das andere stammte von Vanya Kochanowski, einem lettischen Rom, der nach Frankreich zur Zwangsarbeit verschleppt worden war. Alle drei lebten 1945 in der Nähe von Paris, kannten sich und waren noch in diesem Jahr Mitglieder der »Gypsy Lore Society« geworden.

Bemerkenswert an dem Artikel von Maximoff ist nicht nur sein Plädoyer für ein Tribunal der Vereinten Nationen, um die Täter zu bestrafen. Er scheint derjenige gewesen zu sein, der mit seinem Artikel entscheidend dazu beigetragen hat, die Ziffer 500.000 als die bis heute von vielen verwendete Anzahl der Opfer des Völkermordes an den Sinti und Roma in die Welt zu setzen. Wie er zu dieser Schätzung kam, lässt sich nicht klären. Genaue Kenntnisse lagen zu dieser Zeit nicht vor, wie schon im ersten Satz seines Artikels deutlich wird. Zahlreiche Verwandte Maximoffs, die in den besetzten Niederlanden und im besetzten Polen lebten, waren ermordet worden. Er selbst war von 1940 bis 1944 mit seiner Familie in einem der Lager in Frankreich eingesperrt gewesen. Während dieser Zeit hatte er mit seinem Rechtsanwalt Jacques Isorni, der auch Marschall Pétain vertrat, korrespondiert. Er könnte einer der Informanten von Maximoff gewesen sein. Im Juli 1944 kehrte Maximoff nach Paris zurück. Dort traf er am 17. April 1945 Vanya Kochanowski. Am 15. Mai 1945 nahm er, nachdem der Figaro einen von ihm angebotenen Beitrag nicht veröffentlicht hatte, Kontakt mit dem »Journal of the Gypsy Lore Society« auf und reichte am 26. Januar 1946 seinen Beitrag ein. Zwischenzeitlich war am 15. September 1945 in der kommunistischen Zeitschrift »Regards« ein von Imre Gyomai verfasster Artikel erschienen, in dem von »einer halben Million Roma, die in den Öfen von Auschwitz und Buchenwald zu Tode kamen« die Rede ist. Es ist anzunehmen, dass Maximoff diesen Artikel kannte. Bis an sein Lebensende setzte sich Matéo Maximoff für die Anerkennung des Völkermordes ein.

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Lesung des Selbstzeugnisses von Matéo Maximoff
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Lesung des Selbstzeugnisses von Matéo Maximoff | Spoken word | Deutschland | 2018 | voi_00105
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Details

übersetzer Titel
»… the punishment of the assassins of 500,000 Sinti* and Roma*«
übersetzer Titel
»… e džungalengo krisaripe so mudarde 500,000 Rromen*«
übersetzer Titel
‘… the punishment of the assassins of 500,000 Sinti* and Roma*’
Produktion
vor 26. Januar 1946
Credits
Produktionsstab
Objekttyp
Material
Objektnummer
voi_00045

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