Voices of the victims

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Ungarn

Gerhard Baumgartner

Die Diskriminierung und Marginalisierung von Roma in Ungarn setzte in der Zwischenkriegszeit mit diversen Verwaltungsmaßnahmen ein. Wie in einigen anderen europäischen Ländern auch, wurden in Ungarn spezielle »Legitimationskarten für Zigeuner« ausgestellt – eine Praxis, die von der internationalen Polizeiorganisation INTERPOL in den späten 1920er und in den 1930er Jahren eingeführt worden war und von ihr koordiniert wurde. Nach dem Vorbild nationalsozialistischer Verfolgungspraktiken forderten ungarische Provinzbehörden bereits 1943 die Ghettoisierung lokaler Roma-Communities in entsprechenden Lagern.

Maßnahmen gegen Roma nach der deutschen Besetzung

Nach der Besetzung Ungarns durch deutsche Truppen am 19. März 1944 begann die ungarische Regierung mit der Umsetzung von Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden und sogenannte »Zigeuner«. Zwischen April und Juni 1944 wurden insgesamt 440.000 ungarische Juden in die Vernichtungslager im besetzten Polen deportiert. Die Mehrheit der ungarischen Roma war zu diesem Zeitpunkt in der Landarbeit beschäftigt. Viele von ihnen waren zudem in die reguläre ungarische Armee eingezogen worden.

Arbeitskompanien für »Zigeuner«

Am 23. August 1944 ordnete das ungarische Innenministerium im Erlass 15.740/1944 die Schaffung sogenannter »Zigeuner«-Arbeitsbataillone an. Dabei handelte es sich um nichtkämpfende und unbewaffnete Bataillone der ungarischen Armee, in die Roma – wie Juden – als angeblich »rassisch minderwertige« Mitglieder der ungarischen Nation eingezogen wurden. Der Erlass sah die Schaffung von bis zu 60 Bataillonen mit insgesamt 10.000 bis 12.000 Personen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren vor. Vor allem Roma, die als nicht ortsfest oder arbeitslos galten, wurden von den Polizeieinheiten überall in den ungarischen Verwaltungsbezirken zusammengetrieben und zwangsrekrutiert, so geschehen in Zemplén, Csongrád, Zala, Fejér, Baranya, Pest, Heves, Borsod, Komárom und in den Regionen des sogenannten »Oberungarns«, die heute zur südlichen Slowakei zählen. Die Eingezogenen wurden oftmals in speziellen »Zigeunerlagern« untergebracht. Wer aus den Arbeitslagern floh, wurde als Deserteur behandelt, verfolgt und im Falle der Ergreifung oft vor ein Kriegsgericht gestellt.

Errichtung von »Zigeunerghettos«

Im Verlauf des Krieges drängten rassistische ungarische Organisationen auf eine brutalere und radikalere Verfolgung von Roma und forderten die Errichtung spezieller »Zigeunerghettos« in größeren Städten oder die Vertreibung der Roma aus den Städten aufs Land. Ab September 1944 war Roma das Betreten der Stadt Debrecen in Ostungarn nur während hoher Feiertage und mit spezieller Genehmigung der örtlichen Polizeibehörden erlaubt. Wer gegen diese Auflagen verstieß, wurde auf Lebenszeit aus dem Stadtgebiet verbannt. Die Stadt wurde jedoch nur einen Monat später von den sowjetischen Truppen befreit. Im Westen Ungarns hielten sich die faschistische ungarische Regierung und deutsche Truppen noch bis März 1945.

Deportationserlass im Februar 1945

Die Situation in den »Zigeunerlagern« und in den Arbeitsbataillonen verschlechterte sich, nachdem die ungarische Regierung unter Miklós Horthy am 15. Oktober 1944 von einer faschistischen Regierung unter Ferenc Szálasi und seiner Pfeilkreuzlerpartei abgelöst wurde. Am 2. Februar 1945 ordnete Szálasi die Massendeportation ungarischer »Zigeuner« an. Lokale Massaker sind für verschiedene Orte dokumentiert, zum Beispiel für Lajoskimáron, Doboz, Várpalota und Lengyel. Tausende Roma aus Westungarn – Männer und Frauen, manchmal selbst Kinder – wurden ins Lager Csillageröd deportiert, das sich in einem militärisch befestigten Komplex an den Ufern der Donau in Komáron befand. Viele von ihnen wurden Anfang 1945 von dort weiter nach Dachau und schließlich in andere Konzentrationslager deportiert. Auch in anderen Städten und Dörfern Westungarns gab es kleinere »Zigeunerlager«, deren Insass_innen in andere Lager deportiert oder als Zwangsarbeiter_innen für deutsche Verteidigungsprojekte wie den »Südostwall« herangezogen wurden. Dieses letztlich wirkungslose Projekt, ein sechs Meter breiter Graben mit einem hohen Erdwall, kostete Tausenden ungarischen Juden und Roma das Leben. Der höchstwahrscheinlich bereits geplante systematische Völkermord wurde letztlich durch den Zusammenbruch der deutschen Armee an der »Ostfront« Anfang 1945 verhindert.

Unbeachtete Materialien in den Nachkriegsprozessen

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden in Gerichtsverhandlungen gegen die faschistischen ungarischen Täter_innen unzählige Zeugenaussagen zu den Gräueltaten der Faschist_innen gesammelt und von ungarischen Behörden dokumentiert. Darunter befanden sich auch Zeugenaussagen von Roma, die Verfolgung, Deportation und Mord belegten. Aufgrund stark eingeschränkten Zugangs zu Archivmaterial aus der Zeit vor 1989 begann eine entsprechende wissenschaftliche Aufarbeitung jedoch erst in den späten 1990er Jahren und konzentrierte sich zunächst auf das Sammeln von Aussagen Überlebender. Erst vor kurzem begannen Wissenschaftler_innen mit der Auswertung dieser umfangreichen Materialien der Nachkriegsgerichtsverhandlungen. Nach aktuellem Forschungsstand wurden mindestens 50.000 ungarische Roma in die Zwangsarbeitsbataillone eingezogen. Die Todesrate unter den Eingezogenen und die Gesamtzahl der ermordeten Roma werden nach wie vor diskutiert.

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