Voices of the victims

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Völkermord, Holocaust, Porajmos, Samudaripen

Karola Fings

Die Verfolgung der Sinti und Roma unter dem Nationalsozialismus war ein Völkermord. Diese Feststellung ist deshalb wichtig, weil ein Völkermord sich fundamental von anderen Verfolgungspraktiken unterscheidet. Ein Völkermord zielt auf die Auslöschung einer ganzen Gruppe, die von der Mehrheitsgesellschaft als »Feind« definiert wird. Während des Nationalsozialismus wurden Sinti und Roma ebenso wie Juden als »Fremdrasse« stigmatisiert und ihre dauerhafte Entfernung aus der Gesellschaft beschlossen. Zunächst geschah dies durch soziale, wirtschaftliche und räumliche Isolierung. Im Schatten des Zweiten Weltkrieges trat schließlich die physische Vernichtung in den Vordergrund. Die Opfer wurden nicht aufgrund eines individuellen Verhaltens ausgewählt, sondern allein deshalb, weil sie der Minderheit angehörten. Kinder, Frauen und Männer waren an Leib und Leben bedroht, weil sie als »Zigeuner« galten. Es spielte dabei keine Rolle, ob sie arm oder reich, angepasst oder unangepasst, jung oder alt, hell- oder dunkelhäutig waren. Ganze Familien wurden systematisch erfasst, deportiert und ermordet. Darüber, wie dieses Menschheitsverbrechen angemessen bezeichnet werden kann, gibt es unterschiedliche Auffassungen.

Begriffspolitik

Der Völkermord an den Sinti und Roma wurde über Jahrzehnte nicht anerkannt. Erst die Bürgerrechtsbewegungen von Sinti und Roma traten an die Öffentlichkeit und forderten, die an der Minderheit begangenen Verbrechen genauso anzuerkennen und zu entschädigen wie den an der jüdischen Bevölkerung Europas begangenen Völkermord. (Siehe: Anfänge und Entwicklung transnationaler Roma-Bewegungen mit dem Ziel der Durchsetzung von Bürgerrechten nach dem Holocaust)

Um das Anliegen zu verdeutlichen, wurde oftmals der Begriff »Holocaust«, der aus dem Altgriechischen stammt und mit »vollständig verbrannt« übersetzt wird, auch für den Völkermord an Sinti und Roma verwendet. Dies stieß zum Teil auf Kritik, weil einige Forschende oder Interessensvertreter_innen meinten, dass während des Nationalsozialismus nur Juden einer globalen und totalen Verfolgung ausgesetzt gewesen seien. Diese Einschätzung ist inzwischen von der Forschung widerlegt worden.

»Holocaust« als Signum eines historisch einmaligen Verfolgungsprozesses

In verschiedenen europäischen Institutionen wird in Kenntnis dieser Auseinandersetzungen auch der Begriff »Roma-Holocaust« verwendet. »Holocaust« wird dabei nicht mehr exklusiv auf die Verfolgung und Ermordung des europäischen Judentums bezogen, sondern wird verstanden als eine übergeordnete Bezeichnung für die genozidale Politik des nationalsozialistischen Regimes und seiner Verbündeten in den Jahren 1933 bis 1945. Von dieser als »Holocaust« bezeichneten, spezifischen Vernichtungsabsicht waren Juden sowie Sinti und Roma gleichermaßen betroffen. Anzumerken bleibt, dass der Begriff »Holocaust« nicht unumstritten ist, weil er im Altertum das »Brandopfer« von Tieren bezeichnete. Dagegen betont der vor allem in Israel verwendete Begriff »Shoa« das Unheil (oder auch Katastrophe, Zerstörung), das von außen dem jüdischen Volk zugefügt wurde.

Genozidkonvention

Den Begriff »Völkermord« oder auch »Genozid« wiederum lehnen einige Repräsentant_innen der Minderheit ab, weil er zu unspezifisch sei. Der Begriff setzt sich zusammen aus génos (Griechisch für Herkunft, Abstammung, Geschlecht, Rasse) und caedere (Lateinisch für morden, metzeln) und geht auf den jüdischen Überlebenden Raphael Lemkin zurück. Ihm gelang es, die Absicht, »eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören«, 1948 als Straftatbestand im Völkerrecht zu verankern. Als Genozide werden beispielsweise die Morde an Herero und Nama durch deutsche Kolonialtruppen in Namibia (1904–1908), an Armeniern durch jungtürkische Nationalisten (1915–1916) oder in jüngerer Zeit an Tutsi durch Hutu in Ruanda (1994) angesehen. Um die besondere Verfolgungssituation von Sinti und Roma im Nationalsozialismus zu betonen, wird daher oft von »Nationalsozialistischem Völkermord«, kurz »NS-Völkermord« gesprochen.

Begriffe in Romanes

Roma-Intellektuelle haben mehrere aus dem Romanes hergeleitete Begriffe vorgeschlagen. Der Aktivist Ian Hancock (USA) hat in den 1990er Jahren den Ausdruck »Porajmos« populär gemacht. Es handelt sich um eine Wortschöpfung, die als »Verschlingen« oder »Zerstörung« übersetzt wird. Der Begriff wird von verschiedenen Seiten stark kritisiert. Der Linguist Marcel Courthiade (Frankreich) führt dazu aus, dass mit dem zugrundeliegenden Verb porravel (Romanes für »den Mund weit öffnen«) im umgangssprachlichen Gebrauch auch das Öffnen anderer Körperteile zum Ausdruck gebracht wird. Aufgrund dieser in allen Dialekten des Romanes so verstandenen Konnotation bezeichnet er den Begriff als unangemessen.

Courthiade plädiert dagegen für »Samudaripen«. Der Terminus wurde zuerst in den 1970er Jahren in Jugoslawien im Zusammenhang mit Auschwitz und Jasenovac verwendet. Er ist eine Wortschöpfung aus sa (Romanes für »alle«) und mudaripen (Romanes für »Mord«) und kann mit »vollständiger Mord« oder »Massenmord« übersetzt werden. »Samudaripen« ist, so argumentiert Courthiade, unmissverständlich, neutral und respektvoll und bringt Trauer zum Ausdruck. Tatsächlich ist der Begriff im Vergleich zu »Porajmos« wesentlich unpathetischer und durch die Betonung von Mordabsicht und Tötungshandeln in Bezug auf den NS-Völkermord präziser. Die International Romani Union verwendet inzwischen den Begriff »Samudaripen«.

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