Herausforderungen von Archiven

Suche

Anton Holzer

Gegen den Strich – Fotografien von Roma und Sinti und die Macht der Archive

Es gibt keine europäische Minderheit, die derart stark im Fokus der Fotografie stand und steht wie Roma und Sinti. Bereits wenige Jahre nach der öffentlichen Ankündigung des neuen fotografischen Verfahrens im Jahr 1839 entstanden die weltweit ersten Fotografien von ihnen. Sie wurden zwischen 1854 und 1856 vom österreichischen Militärapotheker und Fotografen Ludwig Angerer in Rumänien aufgenommen. Als Roma und Sinti spätestens in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts verstärkt in die Mühlen der staatlichen Repression gerieten, entstanden Fotografien, die sie als »gefährliche Elemente« darstellen. Im nationalsozialistischen Deutschland der 1930er Jahre gipfelte diese Repression in systematischer Verfolgung und schließlich im Völkermord.

Die Bildbestände aus diesen Jahren umfassen rassenbiologische und -anthropologische Aufnahmen ebenso wie Fotodokumente, die die Verfolgung und Deportation von Sinti und Roma in die NS-Konzentrations- und Vernichtungslager zeigen. In den ersten Jahrzehnten nach 1945 wurde diese Verfolgungsgeschichte kaum – auch nicht in Bildern – thematisiert, die populäre Ikonografie (etwa in Fotobänden, aber auch in der illustrierten Presse) hielt – als ob zwischen 1933 und 1945 nichts geschehen sei – weiterhin an der romantisierenden und diskriminierenden Darstellung der Roma und Sinti fest.

Erst in den 1970er und 1980er Jahren wurde – zumindest in der Bundesrepublik Deutschland – diese Sichtweise einer ersten, wenn auch eingeschränkten Revision unterzogen. Unter dem Einfluss politischer und sozialer Bürgerrechtsbewegungen entstand ein Dialog zwischen Mehrheitsgesellschaft und Sinti und Roma. Die öffentliche Darstellung diversifizierte sich. Auch in der Fotografie schlug sich dieser emanzipatorische Schritt nieder. Es gab immer noch pauschalisierende Darstellungen, aber sie wurden nun um Fotoprojekte ergänzt, die die Minderheit auf Augenhöhe zeigten.

unknown | Ohne Titel | Photographie | unbekannt | 1947 | pho_00028 Licensed by: Fortepan | Licensed under: CC-BY-SA 3.0 | Provided by: Fortepan

Ein Großteil dieser insgesamt über 160-jährigen Bildüberlieferung befindet sich heute in öffentlichen und privaten Archiven und Sammlungen. Wenn wir uns also mit der Geschichte der bildlichen Inszenierung der Roma und Sinti beschäftigen, ist es unumgänglich, einen Blick auf die Strukturen und die Praxis der Archive zu werfen. Denn diese haben im Zuge ihrer Ankaufs- und Erwerbungspolitik, aber auch in der Verwaltung der Bildbestände (von der Organisation thematischer Gruppierungen bis hin zur Bildbeschriftung) die Bedeutung und Interpretation der Bilder wesentlich mitbestimmt.

Welche Rolle spielen diese Archive in der Formung und Verfestigung von Bildbedeutungen von Roma und Sinti? Und welche Möglichkeiten gibt es, historische Fotografien, die im Korsett des oft rassistisch geprägten archivalischen Wissens gefangen scheinen, heute neu und anders zu betrachten? Oder anders gefragt: Wie lassen sich Fotografien von Roma und Sinti dem gegenwärtigen Erkenntnis- und Forschungsstand angemessen lesen, interpretieren und veröffentlichen?

Wie sollen und wie können wir in der Praxis mit den stereotypisierenden Bildern und ihren ursprünglichen Beschriftungen umgehen? Was tun mit Bildern, die häufig unter rassistischen Vorzeichen aufgenommen, gesammelt und beschriftet wurden? Eines ist klar: Ein Bilderverbot, ein schlichtes Nicht-Zeigen, löst die Problematik nicht. Aber auch eine einfache »Richtigstellung« der Bildtexte reicht nicht aus, um der historischen Komplexität dieser Bilder gerecht zu werden. Sinnvoller ist es, die bedeutungszuschreibende und -verfestigende Praxis der Archivlogik zu reflektieren und die Erkenntnisse, die daraus zu gewinnen sind, in die Interpretation und Darstellung der Bilder einzubringen.

Interview Anton Holzer | Non Fiction | 2018 | pho_00279 Rights held by: André Raatzsch — Era Trammer | Licensed by: André Raatzsch — Era Trammer | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: RomArchive

Wer sich kritisch und quellenkritisch mit der Fotografie über Sinti und Roma auseinandersetzen und nicht den gängigen Stereotypen aufsitzen möchte, muss wohl oder übel die Mühe auf sich nehmen, selbst im Archiv, also vor Ort, zu recherchieren. Nur dadurch ist es möglich, ergänzende Informationen über die Entstehungskontexte der Bilder zu gewinnen. Denn in vielen Archiven finden sich idealerweise auch Hinweise über die Auftraggeber der Fotoprojekte, oft auch über die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe der Sammlung (erstaunlich viele deutsche und österreichische Fotosammlungen über Roma und Sinti entstanden etwa am Balkan während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg), ihre ursprüngliche Verwendung, ihre originale Beschriftung oder ihre etwaige zeitgenössische Veröffentlichungen. All diese Informationen tragen dazu bei, die historischen Bedeutungsschichten der untersuchten Fotografien genauer zu bestimmen – oder, anders ausgedrückt: sie kritisch gegen den Strich ihrer ursprünglichen Bedeutungen zu bürsten.

Bei der Sichtung zahlreicher historischer Konvolute mit Fotografien von Roma und Sinti treten einige Strukturen der Bildüberlieferung deutlicher hervor. Erstens zeigt sich: Die Fotografien, die heute in Archiven aufbewahrt werden, sind keine »neutralen«, dokumentarischen Bilder. Vielmehr handelt es sich zum Großteil um Bilddokumente, die in suggestive, stereotype und/oder rassistische Bedeutungszusammenhänge eingebunden sind. Wenn diese Bilder heute kommentar- und kontextlos abgebildet werden, wird ihre rassistische Logik fortgeschrieben. Zweitens: Fast alle in Archiven aufbewahrten und medial verwendeten Fotografien von Roma und Sinti, die etwa bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts aufgenommen wurden, stammen von Nicht-Roma-Fotografen. Diese Tatsache hat enorme Folgen für die Bedeutung und Interpretation der Bilder. Wenn wir also historische Fotografien von Roma und Sinti aus den Archivschubladen ziehen und betrachten, sollten wir uns stets bewusst machen, dass die überwiegende Mehrzahl dieser Bilder aufgenommen und gesammelt wurden, um eine »andere«, »fremde«, häufig als »minderwertig« wahrgenommene Kultur zu zeigen und zu inszenieren. Wer die Personen auf diesen Fotografien sind, wissen wir in den allermeisten Fällen bis heute nicht.

unknown | Ohne Titel | Photographie | Ungarn | 1967 | pho_00011 Rights held by: Lechner Non-profit Ltd. Documentation Centre | Licensed by: Fortepan | Licensed under: CC-BY-SA 3.0 | Provided by: Fortepan

Archive tendieren dazu, ihre Bestände zu naturalisieren, das heißt u.a., dass die Herkunft und die Wege, die die Bilder zurückgelegt haben, ignoriert oder ausgeblendet werden. Es wird beispielsweise oft zu wenig beachtet, dass viele Fotografien von Roma und Sinti im Gepäck von Fotografen, Sammlern, Militärs oder Reisenden oft große Wegstrecken zurücklegten (etwa von den Balkanländern nach Mitteleuropa), bevor sie im Archiv landeten. In den Augen der Produzenten, Auftraggeber und Betrachtenden war dies eine Reise von den »unkultivierten« Rändern Europas in die Zentren der westlichen Zivilisation. Diese Logik des Bildertransports vom Ort der Aufnahme in die Metropolen der Schaulust ist eine Facette, die die Fotografien von Roma und Sinti mit der Fotozirkulation im kolonialen Kontext vergleichbar macht.

unknown | Ohne Titel | Photographie | Ungarn | 1972 | pho_00033 Rights held by: Tamás Urbán | Licensed by: Fortepan | Licensed under: CC-BY-SA 3.0 | Provided by: Fortepan
unknown | Ohne Titel | Photographie | Österreich | 1966 | pho_00034 Rights held by: Sándor Bauer | Licensed by: Fortepan | Licensed under: CC-BY-SA 3.0 | Provided by: Fortepan

Halten wir also abschließend fest: Fotografische Bilder von Roma und Sinti sind keine »unschuldigen« Dokumente. Immer sind ihnen die gesellschaftlichen Machtverhältnisse eingeschrieben, innerhalb derer sie entstanden sind und überliefert wurden. Es ist notwendig, diese gesellschaftliche »Rahmung« sichtbar und verständlich zu machen, auch wenn dieses »gegen den Strich bürsten« oft ein aufwendiger, mühsamer Prozess ist.

Anton Holzer ist Fotohistoriker, Publizist, Ausstellungskurator und Herausgeber der Zeitschrift »Fotogeschichte«. www.anton-holzer.at

Era Trammer | Die Herausforderungen des Archivs | Non Fiction | Österreich, Deutschland | 2018 | pho_00268 Rights held by: André Raatzsch — Erika Trammer | Licensed by: André Raatzsch — Erika Trammer | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: RomArchive The images cited in the film were kindly provided by: Diözesenarchiv St. Pölten | Fundación Sierra Pambley | János Sági / Museum of Ethnography – Budapest | Willi Sylvester Horvath | Era Trammer

Rights held by: Anton Holzer | Licensed by: Anton Holzer | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: RomArchive