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Widerworte: Geschichten, Gedichte, Reden, Reportagen

Zellentext I

Mariella Mehr | Zellentext I | Articles | lit_00013

Rights held by: Mariella Mehr | Licensed by: Limmat Verlag | Licensed under: Rights of Use | Provided by: Limmat Verlag (Zurich/Switzerland)

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Credits

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Kontextualisierung

Den »Zellentext I« schrieb Mariella Mehr 1995 für den Schweizer Radiosender DRS1, der unter dem Titel »Minutengeschichten« kurze Texte verschiedener Schriftsteller_innen sendete. Darin schildert Mariella Mehr einen Moment aus der Perspektive einer in einer Psychiatrie eingesperrten Delinquentin. In ihrem Roman »Angeklagt« (2002) nimmt sie dieses Thema erneut auf und lässt die Protagonistin, die wegen Mordes und Brandstiftung angeklagte Kari Selb, in einem einzigen rauschhaften Monolog vor der Gerichtspsychologin ihre Geschichte entfalten.

(Nina Debrunner)

Quelle der Textprobe

Mehr, Mariella. 2017. Widerworte. Geschichten, Gedichte, Reden, Reportagen. Hrsg. von Christa Baumberger und Nina Debrunner. Zürich, Limmat Verlag 2017, S. 138–139.

Christa Baumberger (2017-09)

Beschriftungen

Zellentext I (1995)

Keine Hinterlist, schreie ich und drücke mein Gesicht an den Türspalt. Sähe ich mich, könnte ich mein dreigeteiltes Gesicht betrachten, was der schmale Lichtstreifen mit meinem Gesicht treibt, ich sähe mein Gesicht in Streifen zerschnitten, links und rechts zwei dunkle, von der Stirnmitte bis zum Kinn ein heller, eine exakt geformte, auf meiner Gesichtsmitte erstarrte Flammenzunge.
Da ich nicht gleichzeitig mich sehen und schreien kann, das Gesicht an den Türspalt gedrückt, entscheide ich mich, weiterzuschreien, also schreie ich keine Hinterlist und sonst noch ein paar gutgemeinte Warnungen in den Korridor. Schliesslich breche ich in ein heiseres Bellen aus, so sehr hat das Schreien meine Stimmbänder strapaziert. Ich belle und belle, ich kann nicht aufhören damit. Schade um die Zoten, die ich mir immer bis zuletzt aufspare, wissend, dass sie, von meinem Schreien wie durch Zauberei angelockt, geschäftig durch den Korridor eilen, in Kürze meine Zellentür aufsperren werden, mit dem Aberaber oder Wirwerdendochnicht in den Augen; nein, vor den Spritzen fürchte ich mich nicht mehr, auch nicht vor dem weissen Stoffding, das man gelegentlich auf meinem Rücken zusammenschnürt, nicht vor der humanen Betäubungsmaschine, wie sie sie nennen, die hat man schon lange nicht mehr auf mich angesetzt.
Endlich ausgehustet, versuche ich es doch noch mit meinen Zoten. Ich beginne mit der Alten, der ich das Haus über dem Kopf abgefackelt hatte. Ich mochte sie, schreie ich durch den Türspalt, das wirkt normalerweise immer, wenn nicht, helfe ich jeweils mit einem Tränenschwall nach. Nichts.
Ich lasse die toten Geschwister Moll folgen, schicke, da sich im Korridor nichts rührt, heulend den Wegmeister Toni hinterher, wieder nichts. Nach weiteren Versuchen bleibt mir nur noch die Mutter, ich ersticke beinahe an meinen Schluchzern, heule zum Steinerweichen. Keine Schritte im Korridor, kein fröhliches Schlüsselklirren, kein Aberaber, nicht das leiseste Geräusch.
Verdammter Husten, schluchze ich nun verzweifelt. Alleingelassen, sie haben mich alleingelassen, mich, die doch sonst niemanden hat. Das kann nicht sein, schreie ich, nicht diese Ewigkeit Stille in der Zelle, nicht die, was hab ich ihnen nur getan?

1995,

Deutsch

Details

Autor_innen
Bibliographische Ebene
Articles
Datensatztyp
single object
Sprache
Objektnummer
lit_00013

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