»Ich lebe in der Straße der Freiheit. So soll es sein. Mein Geist. Mein Leitmotiv.«

Norica Costache wurde in Bukarest geboren und wuchs zu kommunistischen Zeiten in Glina in der Provinz Ilfov auf. Nora ist die Jüngste von vier Kindern und das einzige Mädchen. »Unsere Kindheit – ich kann nicht sagen ›meine‹, weil wir so nah waren – war von Musik erfüllt.« Noras Brüder studierten klassische Musik, sie spielen Klarinette, Violine und Klavier. Es gab einen eigenen Musikraum im Haus. Ihre Eltern hatten auf Land gebaut, dass der Familie gehörte. Noras Vater war ein Lautari; er arbeitete zweifach, tagsüber als Akkordeonspieler und Musiklehrer und nachts als Hotel-Portier. Noras Mutter kam aus einer gebildeten Mittelschichtsfamilie; ihr Vater war Sachbearbeiter für die Bezirksregierung. Nora erinnert sich an seine schöne Handschrift, trotz einer Kriegsverletzung, die ihm einen unbeweglichen Finger hinterlassen hatte. Beide Großväter waren Veteranen des Ersten Weltkriegs. Im Zweiten Weltkrieg half Noras Großvater mütterlicherseits, die Deportation von Rom_nja nach Transnistrien zu verhindern.

Nora besuchte die Iulia-Hasdeu-Schule für Geschichte und Philologie während der Herrschaft Ceauşescus. »Die Schule lag gleich hinter unserem Haus. Ich konnte übers Tor klettern und die Abkürzung nehmen. Wir hatten dort einige der besten Lehrkräfte, weil sie im Ausland studiert hatten. Die Schulleitung kannte meine Familie und ermutigte mich. Meine Familie nannte mich ›Streberin‹. Ich nutzte den Geist statt der Musik, um zu glänzen.« Als Kind dachte Nora nie darüber nach, Romni zu sein. Die Familie war in einer gemischten Gemeinde integriert.

Kurz vor Abschluss der Sekundarschule starb Noras Vater. Sie hatte geplant, Philologie zu studieren, die Untersuchung von Sprache im historischen Kontext. Im Dezember 1989 wurde in den Straßen Bukarests für die Freiheit demonstriert. 1990 wechselte Nora angesichts verminderter finanzieller Ressourcen in den Journalismus. Das ergab sich zufällig, denn unmittelbar nach der Rumänischen Revolution von 1989 befreiten sich die Medien von den Schranken, die der Staatssozialismus ihnen auferlegt hatte. »Ich war zur richtigen Zeit im Leben am richtigen Ort.« Nora schloss die Journalismusschule mit zwei Projekten ab: Das erste war ein Modell eines byzantinischen Buchs auf der Grundlage orthodox-christlicher Gebetsbücher; das zweite war eine zweisprachige Zeitung (Romanes und Rumänisch) für Rom_nja. »Das zweite Projekt habe ich nie präsentiert. Es war mein Herzensprojekt.«

1990 erschien die Organisation Aven Amentza (mit der Kampagne »Komm mit«) auf Plakaten an Bushaltestellen und in Ankündigungen im staatlichen Fernsehen. Rom_nja wurden zu einer Versammlung in der Sala Palatului (Palasthalle) im Zentrum Bukarests eingeladen. Noras Cousine Carmen war in der Aven-Amentza-Stiftung aktiv und ermutigte sie, teilzunehmen. »Bei der Versammlung im Palatului sah ich Leute wie Nicolae Gheorghe, Ion Onoriu, Vasile Ionescu und Costel Vasile… einige der Initiator_innen der Bewegung. Das war ein Wendepunkt in meinem Leben. Ich fand den Ort, an dem ich eine wichtige Rolle spielen konnte. Ich traf den Geist der Roma-Bewegung.«

Nora begann, sich für Aven Amentza zu engagieren und arbeitete mit Vasile Ionescu an der ersten Zeitung für Rom_nja in Rumänien. Sie publizierte Beiträge über deren Geschichte und Kultur. »Ich erfuhr erstmals von der Versklavung von Rom_nja und vom Holocaust. Meine Mutter hatte immer mit uns Romanes gesprochen, aber mir war die Bedeutung der Sprache für meine Identität als Romni nicht bewusst gewesen.«

Eine Reihe von Konflikten plagte das Land im Jahr nach dem Ende des sozialistischen Systems. In den Mineriaden von 1990 und 1991 brachen Bergarbeiter aus dem Schiltal gewaltsam die Proteste gegen die regierende Front zur Nationalen Rettung (Frontul Salvării Naționale, FSN), einer Partei, die großteils aus ehemaligen sozialistischen Funktionären bestand. Zugleich stieg die Gewalt gegen Rom_nja. Nicolae Gheorghe – Mitglied der Nichtregierungsorganisation Gruppe für Gesellschaftlichen Dialog (Grupul pentru Dialog Social, GDS), die ein demokratisches Rumänien forderte und einen geschützten Raum für solche Diskussionen bot – bat Nora, eine Pressekonferenz über die Situation der Rom_nja zu organisieren und um die Übersetzung eines Dokuments aus dem Französischen ins Rumänische. Sie lieferte die Übersetzung am Tag darauf. Nicolae Gheorghe lud Nora zur Teilnahme an verschiedenen Veranstaltungen und Pressekonferenzen ein, die den wachsenden Konflikt im Kontext von Rassismus und Segregation behandelten.

Nach dem Niedergang des Ceauşescu-Regimes 1989 verließen Tausende Menschen aus Rumänien, einschließlich Rom_nja, das Land in Richtung Westeuropa. 1992 wurden Rom_nja ohne Aufenthaltspapiere aus Deutschland ausgewiesen und nach Rumänien zurückgeführt. Nicolae Gheorghe beauftragte Nora, mit den Zurückkehrenden Interviews zu führen. Sie erfuhr, dass Rom_nja ihre Häuser verkauft hatten, als sie Rumänien verließen. Einige waren aufgrund der Erfahrung rassistischer Gewalt geflohen – wie der Brandanschläge auf Wohnhäuser im Dorf Mihail Kogălniceanu nahe des Schwarzen Meeres. Die rumänische Regierung bot nicht die Unterstützung und Assistenz, die es erfordert hätte, um die Zurückkehrenden wieder einzugliedern. Nora half bei der Vermittlung der Situation nach der Eskalation in Mihail Kogălniceanu. Sie half der dominanzgesellschaftlichen Gemeinde dabei, zu verstehen, dass die Rom_nja Teil ihres Dorfes gewesen waren und rumänische Mitbürger_innen sind.

Nora glaubt, dass der Hădăreni-Fall von 1993 ein wichtiger Impuls für die Gründung der Organisation Romani CRISS war: Ein Konflikt zwischen Rom_nja und Nicht-Rom_nja im siebenbürgischen Dorf Hădăreni entlud sich in der Zerstörung der dortigen Roma-Nachbarschaft und der Verbannung und Ermordung von Rom_nja und Nicht-Rom_nja in Zusammenarbeit mit der lokalen Polizei. Nicolae Gheorghe initiierte nun die Nichtregierungsorganisation Romani CRISS (Zentrum für gesellschaftliche Intervention und Forschung). Nora Costache war Gründungsmitglied. »Was in Hădăreni geschah, entzündete einen Funken in allen rumänischen Rom_nja.«

Mitte der 1990er Jahre heiratete Nora den Aktivisten Costel Vasile. Ihre gemeinsame Tochter Sara ist 21 Jahre alt und studiert Jura an der Universität Bukarest und Internationales Recht an der Sorbonne. »Costel Vasile war ein ehrenhafter Mann. Er war zu kommunistischen Zeiten Glasfasertechniker für die Industria Aeronautică Română. Er schaute hoch zu einem Flugzeug und sagte zu mir: ›Siehst du das Flugzeug dort, Nora. Wenn irgendwas passiert, bin ich immer noch verantwortlich‹.«

Costel Vasile gründete 1991 die Societatea Tânăra Generaţie a Romilor (Gesellschaft Junger Roma) als zivigesellschaftlichen Ansatz zur Prävention von Gewalt und Diskriminierung gegen Rom_nja. Zoltan Barany hebt diese Organisation in seinem Kapitel »Romani Marginality and Politics« im Sammelband »Romania since 1989« (2004) als eine der am besten geführten Roma-Organisationen der 1990er Jahre hervor und verweist auf deren wirkungsvolle Projekte zur Förderung von Bildungs- und Kulturinitiativen für junge Rom_nja und zur Prävention von Gewalt durch gesellschaftlichen Dialog.

Nach dem Verlust ihres Mannes, berief sich Nora auf ihre beachtliche Bildungs- und Berufskarriere, um eine Vollzeitanstellung zu sichern. Sie hat einen Abschluss in Soziologie und Sozialassistenz von der Universität Bukarest. Und sie ist staatlich geprüfte Dolmetscherin zwischen Rumänisch und Englisch, Rumänisch und Französisch sowie Romanes und Rumänisch. Nora Costache hat in den letzten zwei Jahren beim Nationalen Zentrum für die Kultur der Roma in Bukarest gearbeitet.

Nora sieht sich als Teil eines Kontinuums von Roma-Aktivismus – von den Anfängen der Bewegung bis zu den neuen Ansätzen, die Wurzeln ihrer Kultur zu untersuchen.

»Ein Faktor in der Anfangsphase der Bewegung war die Bemühung, Rom_nja zu etablieren. Das ermöglichte es uns, sichtbarer zu werden und stärker in Entscheidungsfindungen auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene einbezogen zu werden. Jetzt ist es an der Zeit, die Wurzeln unserer Kultur und Sprache in den Blick zu nehmen. Romanes ist die Grundlage meiner Identität. Es bot mir das Fundament, um Vorurteilen und Diskriminierung entgegenzutreten, als ich reifer wurde. Die eigene Kultur und Sprache zu kennen, schottet Menschen keineswegs ab. Ich spreche zumal ›elegantes‹ Romanes. In der modernen Welt eröffnet die persönliche Kenntnis mehrerer Sprachen und Kulturen Möglichkeiten und erweitert unsere Rahmenbedingungen.«