Nord- und Westeuropa

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Hazel Marsh

Roma- und Traveller-Musik im Vereinigten Königreich und Irland

Roma/Traveller-Gruppen

Im Vereinigten Königreich und in Irland sind mehrere ethnische Roma- und Traveller-Gruppen beheimatet, dazu gehören Pavees (Irland), Nawkens (Schottland), Kale (Wales), Romanichals (England), Bargees, Jahrmarkts-/Zirkus-Traveller und Rom_nja. Die Bedeutung dieser Gruppen für die britische und irische Gesellschaft wird selten anerkannt, es sei denn, sie werden als ein soziales Problem betrachtet.

Aber 1906 schrieb Cecil Sharp, der Begründer des britischen Folk-Revivals, dass der beste Gesang, den er je gehört habe, der der Romanichal Betsy Holland gewesen sei. In den 1950er Jahren stellte der bedeutende Folklorist Hamish Henderson fest, dass das Sammeln von traditionellen Liedern von schottischen Traveller sei, »wie eine Dose unter die Niagarafälle zu halten, um Wasser aufzufangen«.

Die »Gypsy music«, wie sie auf Musikfestivals im Vereinigten Königreich gespielt wird, spiegelt nicht unbedingt die lokale Traveller-/Romanichal-Identität wider.

Musikalische Tradition und Erfindung

Als Meister_innen der Innovation und Flexibilität suchen sich Travellers und Romanichals traditionell Lieder aus Mainstreamgattungen aus, adaptieren sie und geben sie dann mündlich an die folgenden Generationen weiter. Ihre ausgeprägte historische und kulturelle Erfahrung lässt sie an Musik und Gesang anders als die Mehrheitsbevölkerung der Gorjas (Anglo-Romani für Nicht-Traveller oder Nicht-Romanichal) herangehen. Da sie nicht von denselben Konventionen eingeschnürt sind wie die Gorjas, variieren Travellers und Romanichals absichtlich jedes Mal Harmonien und Takt, wenn sie ein Lied singen. Gesangsstile sind traditionell solo, langsam und laut (damit sie draußen gehört werden), während die Musik auf tragbaren Instrumenten gespielt wird: Fiedel, Maultrommel, diatonisches Akkordeon oder Löffel.

Wie die Kulturanthropologin Carol Silverman betont, bieten Musik und Tanz zwei der wenigen Arenen, die Sinti und Roma für die positive Artikulation einer öffentlichen Identität offenstehen. Wie andere unterdrückte und marginalisierte Gruppen haben Travellers und Romanichals allerdings wenig Kontrolle über ihre eigene Darstellung.

Festival-Politik

Die exotische Darstellung von »Gypsies« bei solchen Festivals als immanent musikalisch, wild und leidenschaftlich verstärkt verbreitete Ideen über »Authentizität«, die dazu führen können, dass Travellers und Romanichals im Vereinigten Königreich und in Irland als »keine echten Gypsies« abgetan werden.

In der Tat spiegelt die »Gypsy music«, wie sie auf Musikfestivals im Vereinigten Königreich gespielt wird, nicht unbedingt die lokale Traveller-/Romanichal-Identität wider. Das Festival »The 1000 Year Journey«, das im Jahr 2000 am Londoner Barbican stattfand, wurde folgendermaßen beworben: »Nimm Kontakt zu deinem inneren Gypsy auf. [...] Komm und fühle die Hitze eines Zigeunerfeuers.«

Das Festival, von Expert_innen für Weltmusik organisiert, stellte vor allem osteuropäische Musikgattungen und Flamenco vor. Dem Journalisten und Rom Jake Bowers zufolge wurden keine lokalen Roma-/Traveller-Gruppen konsultiert; die Organisator_innen gerieten in die Falle des »Exotismus« und stellten »Gypsies« dar, als gehörten sie in eine andere Zeit und an einen anderen Ort.

Die exotische Darstellung von »Gypsies« bei solchen Festivals als immanent musikalisch, wild und leidenschaftlich verstärkt verbreitete Ideen über »Authentizität«, die dazu führen können, dass Travellers und Romanichals im Vereinigten Königreich und in Irland als »keine echten Gypsies« abgetan werden. Dies kann ernsthafte Konsequenzen haben. Wie der Professor für Roma-Studien Thomas Acton anmerkt, wurzelt Rassismus gegenüber Travellers und Romanichals häufig in der Wahrnehmung, dass diese Gruppen mythischen Stereotypen von »echten Gypsies« nicht genug entsprächen.

Die von irischen und schottischen Travellers und britischen Romanichals aufgeführten Lieder fallen für die meisten Gorjas nicht in die Kategorie »easy listening«. Aber für die englische Folksängerin und Sammlerin Shirley Collins sind sie »total faszinierend«.

Der britische Folkkünstler Martin Carthy schreibt im Begleitheft zu seiner CD »Signs of Life« (1998), dass die von Mike Yates 1974 aufgenommenen Field Recordings des englischen Romanichal Levi Smith »alles infrage gestellt haben, wovon ich dachte, das es musikalisch sinnvoll sei, und es veränderten«.

Die englische Folksängerin Norma Waterson ist auch eine Bewunderin des Gesangs der Brazils und von Wiggy Smith, Duncan Williamson, Jasper, Minty und Levi Smith, Mary Ann Haynes, Phoebe Smith und Belle Stewart, um nur einige der Travellers und Romanichals zu nennen, die von Mike Yates und anderen Forscher_innen aufgezeichnet wurden.

Es ist eine Ironie, dass ethnische Gruppen, die so häufig aus offiziellen Darstellungen von britischem oder irischem Leben ausgeschlossen werden, die Träger eine Folktradition wurden, die in der Gorja-Bevölkerung durch Urbanisierung, Industrialisierung und Modernisierung fast zum Verschwinden gebracht wurde.

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