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Chad Evans Wyatt

RomaRising – eine Projektgeschichte

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Karel Holomek

Chad Evans Wyatt | Karel Holomek | Photographie | Tschechische Republik | 1990 - 2017 | pho_00060 Rights held by: Chad Evans Wyatt | Licensed by: Chad Evans Wyatt | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Chad Evans Wyatt – Private Archive | More at: RomaRising

Im Jahr 2000 machte ich mich auf, eine verleumdete Minderheit in Tschechien zu fotografieren, nachdem ich haarsträubende Tiraden in den Zeitungen gelesen hatte. Rom_nja wurden genetische Fehler, korrumpiertes Sozialverhalten und eine intrinsische Unfähigkeit zur Anpassung an die Erwartungen der Dominanzgesellschaft zugeschrieben. Ich gehöre selbst einer Minderheit an; in der Verfolgung von Rom_nja sah ich denselben Druck einer gesellschaftlichen Mehrheit, mit dem Afroamerikaner_innen verteufelt wurden.

Ich unternahm dieses Projekt also auch als Hommage an die Schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA, an der meine Eltern beteiligt gewesen waren. Es war zudem eine Antwort auf den klaren Aufruf von Dr. Martin Luther King Jr., der von einem Tag träumte, da die Menschen »nicht wegen der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt werden«. Ärzt_innen, Bankangestellte, Geschäftsleute, Menschen aus allen möglichen Berufsgruppen kamen während meiner Kindheit in unsere Wohnung in New York. So war ich fest entschlossen, Rom_nja zu finden und zu porträtieren, die Abschlüsse absolvierten, »normale« Leben lebten und ihre Steuern zahlten.

Es war von Anfang an ein grundlegendes Problem, eine unerprobte fotografische Sprache zu finden. Ich brauchte einen schlüssigen Stil – und fand ihn. Ich wollte Menschen, die es angeblich gar nicht gab, in einem originellen Licht präsentieren. Obwohl die Porträts somit nicht den üblichen »Zigeuner«-Abbildungen entsprechen, haben nur wenige Menschen – abgesehen von Kulturanthropolog_innen – Interesse an diesem Aspekt von RomaRising gezeigt. Die engagierte Roma-Presse verstand beeindruckenderweise sofort die Prinzipien und Motive meiner Arbeit. Die dominanten Medien verstehen den Punkt hingegen häufig nicht: Die RomaRising-Bilder zersetzen das Stereotyp.

Interview Chad Evans Wyatt | Non Fiction | 2018 | pho_00280 Rights held by: André Raatzsch — Era Trammer | Licensed by: André Raatzsch — Era Trammer | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: RomArchive

Aber nochmal zurück zu den Anfängen. Ich entwickelte einen Stil, indem ich ästhetische Entscheidungen traf und mich mit bereits bestehenden Porträtfotografien von rassifizierten Minderheiten beschäftigte. Einige dieser Versuche waren erfolgreich, andere ließen sich von kulturellen Vorurteilen färben. Das Projekt brauchte zudem einen Namen. Bürgerliche und ausgebildete Rom_nja in Tschechien waren von der nationalsozialistischen Tötungsmaschine dezimiert worden. Da ein halbes Jahrhundert später auf wundersame Weise eine neue Roma-Mittelschicht wie ein Phönix aus der Asche emporstieg, gefiel mir der Projekttitel RomaRising. Ich hatte meine Metapher gefunden.

Mein Freund und ehemaliger Direktor der Filmschule FAMU in Prag, Prof. Miroslav Vojtěchovsky, beschreibt die übliche Darstellung von Rom_nja als ein Theater der Groteske. Traurigerweise veröffentlichen die Medien noch immer knallbunte oder verzweifelte Bilder, die Rom_nja in einer frustrierenden Schublade des Rollenspiels vor der Kamera festhalten. Das geschieht sogar in Bildern, die von Regierungen und Nichtregierungsorganisationen beauftragt werden.

Auch Edward S. Curtis, der gefeierte Porträtfotograf indigener Nordamerikaner_innen im frühen 20. Jahrhundert, hielt diese zum Rollenspiel für die Kamera an. Häufig posierten Personen für Curtis, zogen danach ihre Tracht wieder aus und fuhren im Ford Modell T nach hause. Die Fotografie wurde zu einer Darbietung, in der die Porträtierten die Praktiken ihrer Vorfahren nachahmten. Es ist schwierig bis unmöglich, in Curtis' enormem Œuvre das Echte aufzuspüren.

Zuvor und auf ganz andere Weise als Curtis fotografierte Guido Boggiani das Volk der Chamacoco in Paraguay, ohne sie derart zu inszenieren. Die beeindruckende Authentizität dieser Bilder ist offenbar. Es gibt kein Posieren, doch aber Austausch zwischen Abgebildeten und Betrachtenden. So wanderte mein Interesse zu August Sander, der ebenfalls eine transparente Konversation zwischen betrachteter und betrachtender Person verfolgte. Ein weiterer Fotograf, der großartige Josef Koudelka, machte Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wegweisende Aufnahmen von Rom_nja. Seine Fotografien unterstreichen die Bedeutung ehrlicher Bilder in der heutigen Zeit. Wie Sander beruft sich Koudelka auf Transparenz. Letztlich sind die RomaRising-Bilder größtenteils »Umgebungsporträts«, in denen die abgebildeten Personen, ähnlich wie bei Arnold Newman, in ihrer eigenen Umgebung fotografiert werden.

Leider wurde Koudelkas Aufopferung und Hingabe nicht von jenen nachgeahmt, die seine Arbeit schlicht unangemessen kopierten. Mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen folgten seinen bahnbrechenden Bildern von Rom_nja Generationen von überaus schlechter Fotografie. Obwohl es mir nicht möglich war, mehrere zusammenhängende Monate mit Rom_nja vor Ort zusammenzuleben, wie Koudelka es getan hatte, verbrachte ich mehr als ein Jahr mit der Produktion meiner Porträts.

Und ich hatte selbst etwas einzubringen: Ich arbeite kommerziell als Porträtfotograf. Die Nutzung von Studiobeleuchtung sowie von Schwarz-Weiß-Fotografie geben einen respektvollen und sachlichen Blick auf Rom_nja, die etwas erreicht haben, das die Gesellschaft respektieren kann. Das lindert die Spannung, den Nicht-Roma womöglich spüren, wenn sie diese Porträts betrachten. So bieten sie eine Gelegenheit – vielleicht die erste –, Mitmenschen tief ins Gesicht zu blicken, die zufällig Rom_nja sind. Meine Fotos fordern nur Stereotype heraus. Sie sind ruhig und respektvoll, laden zum Nachdenken ein. Diese Herangehensweise war auf Anhieb erfolgreich, sogar wenn die Ausstellung der Bilder von Tanz und Folklore begleitet wurde (worin sich zuweilen das mangelnde kuratorische Verständnis der Intention von RomaRising zeigte).

Die Porträt-Serie hat Würde und historischen Wert, sogar in dem Meer anderer fotografischer Stimmen. Die Roma und Sinti, die ich porträtiert habe, lassen Koudelkas Kommentar widerhallen: »Endlich hat das jemand getan.« Endlich gab es echten kulturellen Gehalt und nicht bloß eine Nachahmung. Ziel war der klare Bruch mit Stereotypen.

Ein paar Worte zu Geschlechterfragen. RomaRising wurde von Anfang an von sehr fähigen und talentierten Frauen unterstützt und mitgetragen. So ist ein Teilmotiv des Projektes die zunehmende Ermächtigung von Romnja. Diese begabten Frauen wohnen allen Folios inne. Ich bin ihnen unendlich dankbar – ohne sie gäbe es kein RomaRising.

Und noch ein paar Worte zur praktischen Umsetzung: Das ursprüngliche Folio, RomaRising Czech Republic, wurde silberbasiert auf 6x6-Zentimeter-Film in der Dunkelkammer entwickelt. Die weiteren Folios – Polen, Slowakei, Ungarn, Kanada, Bulgarien und Rumänien – wurden digital fotografiert. Heute drucken wir die Bilder nach Digitaldateien und oft auf Gewebe. Meine erste Idee, die Bilder auf 9x12-Zentimeter-Planfilm umzusetzen, musste ich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 verwerfen. Ich hatte die Bilder so groß herstellen wollen (1,5 Meter), dass sie psychologisch unleugbar wären. Doch plötzlich hatten die verschärften Flughafensicherheitskontrollen zur Folge, dass Planfilm die neuen Durchleuchtungen und Abtastungen nicht überleben würde. So kehrte ich zur 6x6-Zentimeter-Filmrolle zurück.

Meine ersten Porträtierten fand ich in Tschechien, indem ich angesehene Akademiker_innen sowie befreundete Fotograf_innen und Rom_nja aus meinem ersten Projekt in Europa fragte –101 Artists in the Czech Republic (2000). Das Projekt wurde immer bekannter, es begannen Menschen, meinen Anruf zu erwarten. RomaRising genießt heute europaweit Anerkennung. Das Projekt hat keine Schwierigkeiten, Menschen zu finden, die teilnehmen möchten.

Von Anfang an fehlte jedoch ein Element: Es gab keine richtigen biografischen Kommentare über die Porträtierten. Es gab keine Finanzierung für mehr als einfache Fragebögen. Es ist mir eine Ehre, dass Mary Evelyn Porter tiefgehende und umfassende Interviews und biografische Narrative zu den letzten RomaRising-Folios – Bulgarien und Rumänien – erstellt hat. Die Porträtierten erhielten hier Raum, um ihre Wege zum Erfolg zu erzählen. So werden die abgebildeten Personen lebendig. Porters Arbeit wird allseits bewundert. Ihr Beitrag ist sozusagen das Gegenstück zu meiner Bemühung, jene sichtbar zu machen, die es angeblich gar nicht gibt, das Unsichtbare zu verstehen.

Eine beinahe verhindernde Tatsache mussten wir überwinden. Abgesehen vom polnischen Folio und einem kleinen Stipendium von ArtsLink New York, entsteht ds Projekt in Eigenfinanzierung. Mit einer finanziellen Absicherung hätte RomaRising womöglich doppelt so viele Länder besucht. Stattdessen war die Machbarkeit des Projekts von der Notwendigkeit begrenzt, Gelder aus meinem eigenen Verdienst als Fotograf zu verwenden. Auf Anfragen an Nichtregierungsorganisationen und EU-Töpfe gab es eine wiederkehrende Antwort: Ich war kein Europäer, ich lebte nicht in Europa und ich war kein Rom. Derweil finanzierten Bürokratien auf dem ganzen Kontinent leicht zu vergessende PR-Bilder. Nach einer besonders enttäuschenden Absage beschloss ich 2007, das Projekt aufzugeben. Doch dann bat mich eine kleine Nichtregierungsorganisation in Polen, PROM, um RomaRisingPL. Ich stimmte zu und das Projekt ging weiter.

In sieben Ländern Porträtfotografien von Roma und Sinti aufzunehmen, geschah aus einem persönlichen Antrieb – aus meinem eigenen familiären Hintergrund heraus. Meine Eltern waren in den Anfängen der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA aktiv. In der Erfahrung von Roma und Sinti in Europa sah ich eine Chance, zum historischen Streben nach Menschenrechten und Emanzipation beizutragen. Unter den 400 Porträts in RomaRising finden sich Taxifahrer_innen, Anwält_innen, Buchhalter_innen, Designer_innen, Autor_innen und sogar eine Blumenhändlerin (siehe romarising.com). Ich fühle mich geehrt, dass meine Hoffnungen sich erfüllt haben und so viele Menschen vor meine Kamera gekommen sind – einige unter persönlichem Risiko. So konnte RomaRising zur einzigen unabhängigen Darstellung von Roma und Sinti in den ersten zwanzig Jahren des 21. Jahrhunderts werden.

Washington, DC, Juli 2017

Era Trammer | Politics of Photography | Non Fiction | Österreich, Deutschland | 2018 | pho_00054 Rights held by: André Raatzsch — Erika Trammer | Licensed by: André Raatzsch — Erika Trammer | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: RomArchive The images cited in the film were kindly provided by: György Buzás Jánonsé Buzás József Buzás Sándor Buzás Palkó Lászlóné Mária Raatzsch Jürgen Raatzsch György Stalter Jánosné Turkacs Rozália Treiber Chad Evans Wyatt Burt Glinn – Agentur Focus / Magnum Photos Josef Koudelka – Agentur Focus / Magnum Photos Hungarian Film Office - Magyar Film Iroda Museum of Ethnography – Budapest Fortepan – Online Photo Archive Florian Schuh – Picture Alliance Rhein Neckar Zeitung

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