Bilderpolitik

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Marett Klahn und André Raatzsch

Dominante und dominierte Wirklichkeit(en) und deren Verhältnis zur Sichtbarkeit

Textauszug aus: »Wo sind die guten Gärtner_innen? Zur (Un-) Sichtbarkeit von Rom_nija und ›Anderen‹«.

Die Vorstellung ist eine Form des Bewusstseins, die ein mentales Bild produziert, beschreibt Dore Bowen in Rekurs auf Jean-Paul Sartre. Sie prägt die Art und Weise, wie wir uns zu den Menschen und Gegenständen in unserer Welt beziehen. Die von Erziehung und Kultur geprägte Vorstellung von Menschen und Gegenständen tragen Menschen als mentale Bilder in sich. Diese Bilder, basierend auf bereits vorhandenem Wissen und Assoziationen in herrschenden Machtverhältnissen, können insofern die Gefahr der Projektion oder die Wirksamkeit von Stereotypen fördern (Bowen 2008).

Aber wessen Wissen ist das? Wer produziert es, über wen und mit welchem Ziel? Darf ich hier behaupten, ein autorisierter Sprecher der Rom_nja zu sein? Wer darf über wen sprechen? Allgemein speist sich das ›Verständnis‹ der durchschnittlichen europäischen Bürger_innen von Rom_nja aus einer zusammengeschnittenen Auswahl an Bildern und Botschaften aus unterschiedlichen Medien – so auch in Bezug auf Debatten über »Integrationsprobleme« und »Armutszuwanderung«. Die strukturellen, historischen und politischen Ursachen der bestehenden Situation von Rom_nja – wie Postkolonialismus, Alltagsrassismus und Diskriminierung in der Schule, auf dem Arbeitsplatz sowie in öffentlichen und privaten Einrichtungen – sind in diesem oberflächlichen, assoziativen und vorurteilsbehafteten ›Verständnis‹ nicht enthalten.

Es hat sich eine Sichtbarkeit ›der‹ Rom_nja und eine damit verbundene postulierte ›Wahrheit‹ über sie etabliert. Diese ›Wahrheit‹ ist Teil einer unsichtbaren symbolischen Macht, die dem Erhalt und der Reproduktion einer sozialen und typologischen Ordnung dient (Bourdieu 1994, 164/166; Schaffer 2008, 234). Diese ist selbst ein Resultat eines Kollektivprozesses, einer politischen Aushandlung, in der Subjektivitäten und Wirklichkeit entstehen (Bowen 2008) – das suggeriert zunächst eine Pluralität der Möglichkeiten. Bourdieu nennt diesen Aushandlungsprozess die »Kämpfe um das Machtmonopol [...], [anderen] die [eigene, Einfg. AR/MK] legitime Definition der sozialen Welt aufzubürden« (Bourdieu 1994, 221). Die Voraussetzung dieser Aushandlungen ist problematisch, da nicht alle über dieselben Ressourcen verfügen und diese Ungleichheit sich in einem ungleichen Maß an Zugang zu Definitionsmacht widerspiegelt, die die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit grundlegend betrifft (Bourdieu 1994, 169; Bukow 1996, 66f.).

Nicht nur die Wirklichkeit also, sondern auch die darin entstehenden Subjektivitäten, die diese Wirklichkeit (re-)produzieren und aufrecht erhalten, unterliegen diesem Ungleichheitsverhältnis – die Geworden- und Konstruiertheit desselben bleibt unhinterfragt (Busch 2009, 161). Gerade diese symbolische Macht dient wiederum als Instrument, um die Teilungen und Differenzkonstruktionen in der Gesellschaft zu legitimieren und somit »Gruppen« herzustellen (Bourdieu 1994, 221). Wesentlich für den Erhalt dieser grundlegenden Machtasymmetrie und Differenz ist die »Komplizenschaft« (ebd. 164) aller Gruppen in diesem System: »Symbolische Macht ist eine Macht, die nur ausgeübt werden kann, wenn sie anerkannt wird [...] und [die] in und durch eine gegebene Beziehung zwischen denjenigen, die Macht ausüben, und denjenigen, die sich ihr unterwerfen, definiert ist« (ebd. 170).

»[D]en kritischen Blick vom [...] Objekt zum [...] Subjekt [...] wenden« 1

Eine Grundvoraussetzung für die minorisierte Repräsentation von Rom_nja und ihre (ausschließliche) Sichtbarkeit als das, was mit ›Roma-Sein‹ assoziiert und im herrschenden Diskurs anerkannt wird, ist die Tatsache ihrer Objektivierung – dass sie dabei immer noch als Subjekte agieren, wurde herausgestellt, ebenso wie die Reproduktion ihrer Positionierung durch ihr eigenes Handeln. Sie sind Objekte als ›die Roma‹ und als ›Andere‹. Toni Morrison beschreibt diesen Prozess, wie er in der weißen US-amerikanischen Literatur repräsentiert ist. Diese bedient sich der Präsenz Schwarzer Personen mit dem Sinn, zu (re-)produzieren, dass »sich das amerikanische Ich als nicht versklavt, sondern frei erfährt, als nicht abstoßend, sondern begehrenswert, nicht hilflos, sondern privilegiert und mächtig, nicht geschichtslos, sondern geschichtlich, nicht verdammt, sondern unschuldig, nicht ein blinder Zufall der Evolution, sondern fortschrittliche Erfüllung eines Schicksals« (Morrison 1994, 80).

Wahrheiten, Beschreibungen und Repräsentationen müssen von ihren hegemonialen Strukturen befreit und in ihrer Mehrdeutigkeit und Fluidität akzeptiert werden. Der historische und künstlerisch-kulturelle Kanon in Europa muss mit einem kritischen Blick dahingehend analysiert werden, wie ›die‹ Deutschen, ›die‹ Franzosen, ›die‹ Ungarn, Minderheiten und Migra nt_innen an seiner Gestaltung teilnehmen und sichtbar werden können. Aber wer bestimmt die Bedingungen der Teilhabe, der Sichtbarkeit und der Kunstproduktion? Wie demokratisch sind die Strukturen? Wer repräsentiert, wer wird repräsentiert? Wer ist sichtbar und anerkannt? Wer ist nicht sichtbar? Wer darf und kann sich selbst repräsentieren? Wer darf und kann sich nicht selbst repräsentieren? Wer ist befugt, über Andere zu sprechen und andere zu repräsentieren? Wer gilt als legitime_r Sprecher_in einer Gruppe? Wer gilt nicht als legitime_r Sprecher_in?

Sogar im Fall der Betrachtung ihrer Ausgrenzung und Diskriminierung bleiben Rom_nja ›rassifizierte Objekte‹ und Gegenstand der Debatten um eben diese Ausgrenzung und Diskriminierung. Durch diese Objektivierung findet nicht nur eine fälschliche Herstellung von Kausalität statt – Rom_nja seien selbst für ihre Ausgrenzung und mangelnden Teilhabemöglichkeiten verantwortlich –, sondern vor allem auch eine Externalisierung von Seiten der Dominierenden, eine Unsichtbarmachung und Entkopplung von ihrer Dominanz als (Mit-) Ursache der Dominiertheit anderer. Die Befreiung der Rom_nja »von ihren Sklavenketten [...] hängt von uns – den Europäern – ab«, sagt Wippermann (2006, 83), also von den herrschenden und normgebenden Strukturen und Gruppen.

Morrison hat das bereits in den 1990er Jahren in Bezug auf die Schwarze US-Bevölkerung in ihrer Forderung formuliert, den »kritischen Blick vom [...] Objekt zum [...] Subjekt zu wenden, von den Beschriebenen und Imaginierten zu den Beschreibenden und Imaginierenden; von den Dienenden zu den Bedienten« (Morrison 1994, 125). Diese Forderung hat zum Ziel, eben diese Unsichtbarkeit und Unmarkiertheit der weißen Machtstrukturen, die auf dem legitimierten Nicht-Erkennen der Unterdrückung anderer basiert, zu beenden und den »Einfluss des Rassismus auf diejenigen [zu erforschen, Einfg. AR/MK], die ihn perpetuieren« und von ihm profitieren (ebd., 33).

Das deckt, wie vorab dargestellt, ein breites Spektrum ab – von ökonomischer Privilegierung bis zur Nutzbarmachung rassifizierter Sichtbarkeiten oder »schattenloser Omnipräsenz« zur Herstellung nationaler oder kollektiver Identität. Um das »Subjekt«, die »Beschreibenden« und »Bedienten« und den Einfluss von Rassismus auf sie zu erforschen (Morrison 1994, 125), hat Morrison den Begriff des »Afrikanismus« eingeführt: für »die Bedeutung und für die Beiklänge des Schwarzseins, für das afrikanische Menschen heute stehen, sowie für die ganze Skala von Ansichten, Meinungen, Interpretationen und Fehlinterpretationen, welche die eurozentristische Lehre über diese Menschen begleiten« (ebd., 27).

»Mit realen Menschen«, so End, »die von Antiziganismus betroffen sind, hat diese Vorurteilsstruktur kaum etwas gemein. Sie führt gewissermaßen ein Eigenleben. Weil aber die Stereotype und Sinngehalte des Antiziganismus nur sehr indirekt etwas mit Rom_nja zu tun haben, vielmehr aber mit der Vorstellungswelt der Mehrheitsbevölkerung, ist es notwendig, von Antiziganismus zu sprechen« (End 2011) und somit die dominante Gruppe, die Profiteure zu adressieren und zur Auseinandersetzung aufzufordern. »Afrikanismus« und »Antiziganismus« sind dabei beispielhafte Instrumente, um der weißen Position einen Spiegel bereit zu stellen, um ihr Selbst, ihre Ängste und ihr Begehren zu verhandeln und vor allem zu der Sichtbarmachung mittels institutioneller, psychischer und diskursiver Gewalt konstruierten und aufrechterhaltenen dominanten, »normalen« Strukturen beizutragen (Morrison 1994, 17). Auf dieser Grundlage kann eine Kausalität zwischen Dominanzstrukturen und Diskriminierung von Gruppen, wie Rom_nja oder Schwarzen Menschen, sichtbar gemacht werden, die vormals unmarkiert blieb.

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